: 297
Magdeburg, den 16.06.2003

Ansprache des Präsidenten des Bundesrates, Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer, bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages und des Bundesrates anlässlich des 50. Jahrestages des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953

Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 297/03 Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 297/03 Magdeburg, den 17. Juni 2003 Ansprache des Präsidenten des Bundesrates, Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer, bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages und des Bundesrates anlässlich des 50. Jahrestages des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 Sehr verehrter Herr Bundespräsident, Herr Bundestagspräsident, Herr Bundeskanzler, Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Exzellenzen, meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir heute, am 17. Juni 2003, uns an die Ereignisse von vor 50 Jahren in der ehemaligen DDR erinnern, haben wir die Chance und die Möglichkeit, Tatsachen aufzuarbeiten, die uns bisher verborgen waren, und die Ereignisse von damals als einen Gedenktag unserer gemeinsamen gesamtdeutschen Geschichte zu begreifen. Die Menschen in Ost- und Westdeutschland haben die Geschehnisse von damals in unterschiedlicher Weise erlebt. Sie wurden zum Feiertag für die einen und blieben ein Arbeitstag für die anderen. Diejenigen, die am 17. Juni 1953 in der DDR demonstriert hatten, mussten darüber möglichst schweigen und wie immer arbeiten, während diejenigen, die das aus größerer Entfernung beobachtet hatten, der Ereignisse gedenken durften und dafür frei bekamen. Eine Auswertung der Reden, die in den vergangenen Jahrzehnten anlässlich dieses Tages gehalten wurden, würde einen aufschlussreichen Perspektivwandel ergeben. In der Erinnerung und im Bewusstsein der Menschen in beiden Teilen Deutschlands haben sich die Ereignisse von damals in sehr unterschiedlicher Form eingeprägt. Eine hoffentlich nicht signifikant repräsentative Befragung unter Jugendlichen in allen Teilen Deutschlands soll ergeben haben, dass 83 Prozent der Befragten mit dem Datum eigentlich nichts anfangen konnten. Dies sind Umstände, die die Zeitzeugen von damals und die Generation derjenigen, die sich noch persönlich erinnern können, als Aufgabe begreifen müssen. Inzwischen stehen fast alle Archive zur wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung, und die noch lebenden Zeitzeugen haben ihr sich zum Selbstschutz auferlegtes Schweigen gebrochen. In der letzten Zeit sind eine größere Zahl von Dokumentationen veröffentlicht und wissenschaftliche Aufarbeitungen erschienen, die eine eindrucksvolle neue Bewertung dieses historischen Datums begründen. Was auf der einen Seite als eine von außen induzierte faschistische Provokation diffamiert und von Außenstehenden als machtvoller Volksaufstand heroisiert wurde, erscheint uns heute als eine multifokale, aber unorganisierte, als eine emotional-sporadische, aber durchaus politische Protestbewegung gegen ein System staatlicher Volksbeglückung. Die Phänomenologie der Einzelereignisse ist inzwischen ausreichend aufgearbeitet und bekannt. Die politische Machtsicherung durch sowjetische Panzer konnte nicht verborgen werden, die Zahl der ohne oder mit Gerichtsurteil vollstreckten Todesurteile dürfte inzwischen ermittelt sein. Die Einordnung in die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge und deren Wertung sind es, die wir auch für zukünftige Generationen bewahren müssen. Die Entwicklung begann im Juli 1952, als von der SED der ¿planmäßige Aufbau der gesetzmäßigen Grundlagen des Sozialismus¿ beschlossen wurde. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ging nicht um gesetzliche Grundlagen, sondern um gesetzmäßige, weil man glaubte, damit gleichsam ein allgemeingültiges, historisches, gesellschaftspolitisches Naturgesetz zu erfüllen. Niemand wusste genau, was das sein würde. Aber alle Berichte der damaligen Zeit verkündeten den Aufbau einer vollkommen neuen Gesellschaftsepoche ohne Ausbeutung und Eigennutz, einer Gesellschaft ohne Ungleichheit und immer vollkommener sozialer Gerechtigkeit. Umgesetzt wurde das mit dem Beginn der Kollektivierung in der Landwirtschaft, der Strangulierung verbliebener Reste der Privatwirtschaft, der Einschränkung noch privater Handelsbetriebe und der staatlichen Reglementierung aller freien Berufe. Selbstständige Unternehmer und Geschäftsleute galten als ¿kapitalistische Elemente¿ und Reste einer Gesellschaftsordnung, die zu überwinden war. Sie bekamen als erste keine Lebensmittelkarten mehr. Ihren Kindern wurde die weiterführende Schulbildung verwehrt. Die Folge dieser und anderer Maßnahmen war eine erste große Fluchtwelle, die damals auch zum Aufbau des Notaufnahmelagers Marienfelde führte, dessen 50-jährige Existenz nicht zufällig auch in dieses Jahr fällt. Das war schließlich selbst den sowjetischen Machthabern in Moskau zuviel. Die Spitze der DDR-Administration wurde Anfang Juni 1953 zum Rapport bestellt und musste eigene Fehler öffentlich zugeben. Die Rücknahme einzelner Entscheidungen wurde Anfang Juni als sogenannter ¿Neuer Kurs¿ deklariert. Arbeiter auf einigen Großbaustellen in Berlin forderten zunächst ab 15. Juni nichts anderes, als auch die Rücknahme von Normerhöhungen, die zwischen 10 bis 30 Prozent angeordnet worden waren. Als darauf nicht reagiert wurde, kam es am 16. Juni zu unabgestimmten Streikaktionen an vielen Stellen, und am 17. Juni zu Demonstrationen, die dann sofort grundsätzliche politische Veränderungen zum Ziel hatten. Schon die Berliner Bauarbeiter skandierten auf der Straße: ¿Kollegen, reiht Euch ein, wir wollen freie Menschen sein¿. Während über die Ereignisse aus Ostberlin durch die Berichte westberliner Rundfunkanstalten viele Einzelheiten bekannt waren, gab es aus anderen Orten der ehemaligen DDR nur gerüchteweise Informationen, die keinen Gesamtüberblick ermöglichten. Inzwischen wissen wir, dass es in über 700 Städten und Gemeinden der ehemaligen DDR zu Demonstrationen und Streiks gekommen ist. Insgesamt dürften zwischen ½ bis 1 Million Menschen daran beteiligt gewesen sein, etwa die Hälfte davon in den mitteldeutschen Wirtschaftsregionen zwischen Leipzig ¿ Halle und Magdeburg. Über 250 öffentliche Verwaltungsgebäude sind erstürmt worden, aus 12 Haftanstalten wurden knapp 1.400 Häftlinge befreit. In Görlitz und Bitterfeld wurden die Bürgermeister abgesetzt und durch Arbeitervertreter ersetzt. Ein Verwandter von mir hat in einem kleinen Dorf bei Görlitz die DDR-Fahne vom Mast geholt und sie dem Bürgermeister um den Hals gelegt mit den Worten: Die kannst Du Dir mit nach Hause nehmen, die brauchen wir nicht mehr. Dafür wurde er mit 10 Jahren Zuchthaus bestraft. Nach 9 ½ Jahren wurde er krank entlassen. Er verstarb wenige Monate später. Erst vor kurzem ist in einem Archiv das Originaltelegramm der Bitterfelder Arbeiter an die Regierung gefunden worden. In 10 Punkten forderten sie unter anderem: Rücktritt der Ulbricht-Regierung, Beseitigung der Schlagbäume und freier Reiseverkehr in Deutschland, Zulassung der im Westen befindlichen demokratischen Parteien, Wahl einer gesamtdeutschen Regierung, Freilassung der aus politischen und religiösen Gründen Inhaftierten, Meinungs- und Pressefreiheit. In öffentlichen Reden zu diesen Forderungen wurde eine elfte angefügt, nämlich die, das Deutschland-Lied solle ab sofort auch unsere Nationalhymne sein. Die hilflose DDR-Regierung flüchtete zur sowjetischen Militärkommandantur nach Berlin-Karlshorst und diese reagierte sofort. In 167 der 217 Land- und Stadtkreise der ehemaligen DDR verhängte die sowjetische Militäradministration den Ausnahmezustand. 18 standrechtliche Erschießungen sind belegt. Zwischen 13.000 bis 15.000 Personen wurden festgenommen. Verurteilt wurden von DDR-Gerichten etwa 1.800 Personen, durch sowjetische Militärgerichte zwischen 500 bis 750. Dass 1961 alle Bundesländer des westlichen Teils Deutschlands eine ¿Zentrale Erfassungsstelle¿ für Menschenrechtsverletzungen in der DDR eingerichtet haben, hat es nicht wenigen ehemaligen Häftlingen ermöglicht, über ihr persönliches Schicksal später zu berichten. Innerhalb der DDR ist dies mit heimlicher Genugtuung registriert worden. Die weitere Entwicklung ist bekannt. Für die DDR-Führung gab es zwei öffentlich formulierte Konsequenzen: nie wieder eine öffentliche Fehlerdiskussion zuzulassen, den Klassenkampf im Inneren durch ein ausgebautes System der Überwachung der eigenen Bevölkerung verstärkt und konsequenter fortzusetzen. Genauso wenig wie später die Machthaber anderer sozialistischer Staaten waren sie bereit zu akzeptieren, dass die von ihnen regierten Menschen nicht bereit waren, sozialutopischer Heilsversprechungen wegen, auf persönliche Freiheiten zu verzichten. In der damaligen DDR kam es zu einer ideologischen Aufarbeitung. Zu den größten Demütigungen an die ich mich persönlich erinnere, gehört die Aufforderung an mich, dass ich mich vor der gesamten Schülerschaft der damaligen Oberschule wegen meiner Zugehörigkeit zur Jungen Gemeinde öffentlich schämen und mich davon distanzieren sollte. Ich habe das zwar nicht getan, aber ich muss auch zugeben, dass ich recht kleinlaut dabei auf mich selbst keinen guten Eindruck gemacht habe. Auch wenn die Aktionen am 17. Juni 1953 zunächst erfolglos blieben, hatten sie doch Langzeitwirkung. Es kam zu ähnlichen Aufständen 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei. Sie fanden ihre Fortsetzung in der Solidarnóc-Bewegung in Polen und in der friedlichen Revolution des Jahres 1989. Über freiheitliche Bestrebungen in Russland wissen wir aus Solschenizyns Archipel GULAG und vielen anderen Zeugnissen. Immer und überall war es ein Aufbegehren gegen die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte, um eine angeblich größere und höhere soziale Gerechtigkeit in einer neuen Gesellschaft aufbauen zu wollen. Niemand hat dies treffender umschrieben als Karl Popper in seiner Abhandlung über die offene Gesellschaft: ¿Von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste. ... Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert stets die Hölle.¿ Das Gesellschaftsexperiment DDR ist inzwischen Geschichte. Aber auch zukünftige Generationen werden mit den Problemen unserer Ungleichheit, mit sozialen Spannungen und Konflikten leben müssen. Niemals waren Menschen immun gegen Heilsversprechungen und sie werden es auch zukünftig nicht sein. Wenn wir auch keine perfekten Lösungen für die denkbaren Probleme der Zukunft haben, so sollten wir doch vor einer Wiederholung von Irrwegen der Vergangenheit warnen. Aus diesem und vielen anderen Gründen müssen wir das Gedenken an die Ereignisse des 17. Juni 1953 unter uns und für künftige Generationen bewahren. Es ist mir eine besondere Ehre und Freude, auch im Namen meines Kollegen, Herrn Bundestagspräsidenten Thierse, nunmehr den Bundespräsidenten zu bitten, anlässlich des heutigen denkwürdigen Tages die Festrede zu halten. Ich danke Ihnen. Impressum: Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Pressestelle Domplatz 4 39104 Magdeburg Tel: (0391) 567-6666 Fax: (0391) 567-6667 Mail: staatskanzlei@stk.sachsen-anhalt.de

Impressum:
Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt
Pressestelle
Hegelstraße 42
39104 Magdeburg
Tel: (0391) 567-6666
Fax: (0391) 567-6667
Mail: staatskanzlei@stk.sachsen-anhalt.de

Anhänge zur Pressemitteilung