Rede von Bundesratspräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2003 in der Stadthalle Magdeburg
Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 469/03 Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 469/03 Magdeburg, den 3. Oktober 2003 Rede von Bundesratspräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2003 in der Stadthalle Magdeburg Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Herr Bundeskanzler, Herr Präsident des Bundestages, Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Exzellenzen, verehrte Kollegen Ministerpräsidenten, meine sehr verehrten Damen und Herren, Dreizehn Jahre nach der Wiedervereinigung unseres über 40 Jahre geteilten Landes darf ich Sie heute in Magdeburg begrüßen, um gemeinsam mit Ihnen diesen denkwürdigen Tag jüngster deutscher Geschichte zu würdigen und gemeinsam zu feiern. Für uns ist es nicht nur ein Datum aus dem Geschichtsbuch, sondern ein Erinnern an gemeinsam erlebte Zeitgeschichte, ein gemeinsames Erinnern an unbändige Freude und unvermutete Probleme. Es gibt so viele Erinnerungen wie es Menschen gibt die sich erinnern. Jeder bewahrt seine eigenen Bilder von der erlebten Vergangenheit und wertet die erlebte Geschichte mit den Maßstäben seines eigenen Lebens. So müssen wir uns nicht wundern, wenn das kollektive Erinnern schon nach nur 13 Jahren zu einem höchst unterschiedlichen, aber immer facettenreicheren Bilderbogen höchst verschiedener Wertungen und Würdigungen erlebter Ereignisse geführt hat und auch weiter führen wird. Für die Transformierung einer auf Volkseigentum basierenden, abgeschotteten staatlichen Planwirtschaft in eine auf Privateigentum aufbauende, weltoffen wettbewerbsfähige Marktwirtschaft gab es weder Erfahrungen noch Lehrtexte. Andere Länder erkundigen sich heut bei uns, wie wir diese Probleme gelöst haben. Dass die Sanierung einer maroden Infrastruktur und völlig überschuldeter Staatsstrukturen viele Jahre dauern würde, hätten wir uns bei nüchterner Betrachtung denken können. Bei vielen von uns bestand ein Wahrnehmungsdefizit, weil wir die Wirklichkeit der jeweils anderen Seite nicht kannten und auch nicht den Geheimbericht aus der staatlichen Planungskommission der zusammenbrechenden DDR. Nur bei wenigen ist danach eine Wahrnehmungsverweigerung geblieben, weil sie nicht wahr haben wollen, was den eigenen Wunschbildern von der Wirklichkeit nicht entspricht. In den zurückliegenden Jahren haben wir durch eine beispiellose innerdeutsche Solidarität sehr viel erreicht. Wir haben schon gut entwickelte Landschaften, wenn auch noch nicht überall und noch zu wenige. Es gibt noch viele ungelöste Probleme. Dazu gehört die sehr ungleiche Verteilung von Arbeit. Das führt zu demografischen Verlusten, die sich generativ fortsetzen, und gegen die wir bisher keine überzeugende Strategie haben. Wir haben nach 13 Jahren deutscher Einheit noch keinen gemeinsamen Maßstab, kein gemeinsames Koordinatensystem, mit dem wir die Erfolge der vergangenen Jahre messen und mit dem wir Lösungen für Aufgaben der Gegenwart suchen. Wer hier unter uns immer nur nach den westlichen Ländern sieht und alles mit der Elle des Verfassungsgebotes gleichartiger Lebensverhältnisse misst, wird noch längere Zeit über Defizite klagen und sich selbst die Freude über bisher erreichte eigene Erfolge vermindern. Wer hier unsere Entwicklung mit der unserer östlichen Nachbarn vergleicht, die aus einer gleichartigen Situation heraus durch Inflation ihren Aufbau selbst finanzieren mussten, der wird zu ganz anderen Ergebnissen kommen müssen. Ich habe in der letzten Zeit mit vielen Vertretern aus diesen Ländern gesprochen, die uns in den sogenannten neuen Ländern in Deutschland beneiden. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass es gelungen ist, Herrn Imre Kertész, den auch in Berlin wohnenden ungarischen Literaturnobelpreisträger des Jahres 2002 zu gewinnen, heut aus seiner Sicht über die deutsche Einheit zu sprechen. Ihn darf ich und seine Gattin besonders begrüßen. Etwas kann man nach 13 Jahren Wiedervereinigungspolitik, wie ich hoffe, unwidersprochen sagen: Wenn auch noch nicht alle teilungsbedingten Probleme überwunden sind, die wichtigsten Aufgaben, vor denen wir jetzt stehen, sind gesamtdeutsche und gehen uns alle an. Nur der Handlungsdruck wird wegen der noch ungünstigeren wirtschaftlichen Lage in den neuen Ländern viel stärker empfunden als möglicherweise in den anderen. Wenn es wahr ist, was Wirtschaftsstatistiker uns vorrechnen, dass von den 1583 umsatzstärksten deutschen Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als 250 Millionen Euro nur 48 in den neuen Ländern ansässig sind, dann wird deutlich, welche Asymmetrien wir noch überwinden müssen. Diese ungleichen Situationen haben auch die Konsequenz, dass die gleichen Lösungsansätze in den unterschiedlichen Regionen ungleiche Wirkungen und Folgen haben müssen. Für manche Probleme werden wir weiterhin ungleiche Regelungen brauchen. Die je Einwohner erzeugte Wirtschaftsleistung stagniert seit 1997 bei ca. 60 Prozent des westdeutschen Niveaus. Die Arbeitslosenquote lag im Jahresdurchschnitt 2002 im Bundesgebiet Ost mehr als das Doppelte über dem Bundesgebiet West. Fast jeder dritte Euro, der durch private Haushalte, die Unternehmen oder den Staat im östlichen Teil Deutschlands ausgegeben wird, muss nach wie vor durch Transferzahlungen aus dem Westen finanziert werden. Das darf sich nicht verfestigen. Trotzdem ist es richtig, dass wir auch erheblichen gesamtdeutschen Reformbedarf haben. Wir stimmen allen zu die fordern, dass die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung verbessert werden müssen. Bei uns in den neuen Ländern, wo das Wirtschaftswachstum eben geringer und die Arbeitslosigkeit höher ist, ist die Bereitschaft zu Reformen größer. Nicht wenige unserer Betriebe haben schwierige Zeiten nur deshalb überlebt, weil Mitarbeiter und Geschäftsführung in einer Notgemeinschaft Tarifprobleme eigenverantwortlich gelöst haben, ohne auf einen Rechtsrahmen dafür zu warten. Wir sind diesen Solidaritätsgemeinschaften dankbar und sollten unsererseits den Mut aufbringen, jetzt jene Veränderungen vorzunehmen, die notwendig sind, um die wirtschaftliche Entwicklung wieder voranzubringen. Gerade und besonders die Menschen in den neuen Ländern haben aus den Erfahrungen eines schwierigen Transformationsprozesses gelernt, dass nur durch Veränderung die erkennbaren Probleme für die Zukunft gemeistert werden können. Sie sind dazu bereit. Wir haben von der früheren Bürgerbewegung gelernt, nicht nur das Unmögliche zu beklagen, sondern wenigstens das Mögliche zu tun. Auch wenn es manchmal nur kleine Schritte sind. Wenn viele Menschen in unseren Ländern an vielen Orten viele wenn auch nur kleine Schritte tun, können wir doch schon vieles verändern. Dabei erwarten sie natürlich Hilfe und Anleitung von uns, die wir dafür gewählt worden sind. Es waren und sind die einzelnen Bürger in allen Teilen unseres Landes, die die Lasten der Wiedervereinigung zu schultern haben: Durch zusätzliche finanzielle Belastungen die einen, durch einen völligen Umbruch ihrer Lebensverhältnisse die anderen. Dabei konnten Enttäuschungen nicht vermieden werden. Ich erinnere mich noch der Zeiten, als wir uns nach Meinungspluralität und freien Wahlen sehnten, mit der Möglichkeit, als Bürger wenigstens dadurch mit entscheiden zu können. Heut wird die öffentliche Diskussion über unterschiedliche Problemlösungsmodelle als Hilflosigkeit der Politiker und als Verunsicherung empfunden. Zu diesem Eindruck tragen wir bei, wenn wir unser Urteil selbst davon abhängig machen, von wem ein Vorschlag zuerst in die öffentliche Diskussion getragen wurde. Nichts anderes als Enttäuschung kann es sein, wenn hier in den neuen Ländern die Wahlbeteiligung immer geringer geworden ist. Nach meinem Eindruck werfen uns die Bürger nicht vor, dass wir nicht alle einer Meinung wären. Aber sie sind enttäuscht und werfen uns vor, dass wir nicht bereit oder fähig wären, die eigenen Grenzen zu überwinden und konkrete Lösungen für jene Probleme zu finden, die sie bedrücken. Dabei gibt es ermutigende Zeichen ¿ zum Beispiel die Gesundheitsreform ¿ aber auch noch viele ungelöste Aufgaben, die vor uns liegen. Ich bin so ehrlich zuzugeben, dass ich mir vor etwa zwanzig Jahren eine Vereinigung der beiden Teile Deutschlands nicht hätte vorstellen können. Nun leben wir schon 13 Jahre in einem wiedervereinigten Deutschland. Wir haben vieles erreicht, worüber wir uns von Herzen freuen. Wir haben auch das Selbstvertrauen, die noch bestehenden Unterschiede abzubauen. Trotz alledem gibt es noch viel zu tun. Dazu wird sicher der Herr Bundeskanzler seine Vorstellungen vortragen, den ich deshalb jetzt um seinen Beitrag bitten möchte. Impressum: Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Pressestelle Domplatz 4 39104 Magdeburg Tel: (0391) 567-6666 Fax: (0391) 567-6667 Mail: staatskanzlei@stk.sachsen-anhalt.de
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