: 176
Magdeburg, den 27.04.2005

Rede von Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer in der Gedenkstunde des Landes Sachsen-Anhalt zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 28. April 2005 im Landtag von Sachsen-Anhalt

Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 176/05 Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 176/05 Magdeburg, den 28. April 2005 Rede von Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer in der Gedenkstunde des Landes Sachsen-Anhalt zum 60. Jahrestag des Kriegsendes am 28. April 2005 im Landtag von Sachsen-Anhalt Am 8. Mai 1945 ging mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands der II. Weltkrieg zu Ende. Für 23.01 Uhr hatte man sich auf das Ende aller Kampfhandlungen in Deutschland geeinigt, während in Japan weiter gekämpft wurde. Diesen Krieg hatte Deutschland nach jahrelanger zielstrebiger Vorbereitung am 1. September 1939 begonnen. Nur eine Woche vorher, am 23. August 1939 war mit einem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt die Sowjetunion zunächst ruhig gestellt worden. Mit einem geheimen Zusatzvertrag wurde bereits damals Polen zwischen Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt. Nach dem Ende des Krieges hat die Sowjetunion ihren ihr bereits vorher zugedachten Teil behalten und Polen zu Lasten Deutschlands entschädigt. Bereits mit Beginn dieses Krieges begann im Herbst 1939 eine der größten Umsiedlungs-, Vertreibungs- und Emigrationswellen, die die Geschichte kennt. Etwa 9 Millionen Menschen sind damals rückgesiedelt, umgesiedelt, vertrieben oder ¿eingedeutscht¿ worden. Rund 1,2 Millionen Polen mussten die neuen Reichsgaue verlassen und wurden in das sog. Generalgouvernement umgesiedelt. Juden, Sinti und Roma und Widerstandskämpfer wurden inhaftiert, verschleppt oder gleich ermordet. Der mit einem fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz begonnene Krieg wurde von Anfang an mit brutaler Härte geführt. Als der Krieg Mitte März 1945 für alle erkennbar bald zu Ende sein musste und die Alliierten Deutschland längst unter sich in Besatzungszonen aufgeteilt und die abzutrennenden Gebiete festgelegt hatten, erließ Hitler am 19. März 1945 den Befehl, auch in den deutschen Städten alles zu zerstören, was den gegnerischen Truppen oder der verbliebenen Bevölkerung nutzen könnte. Nach der Meinung dieses zunächst selbst ernannten und dann auch noch gewählten Führers hatte das deutsche Volk kein Recht mehr weiterzuleben, wenn es diesen Krieg verlieren sollte. Wenige Militärs verweigerten die Befehle, andere ließen umherirrende Soldaten auch Ende April noch als angebliche Deserteure standrechtlich erschießen. Sehr viele Inhaftierte wurden in panischen Aktionen noch exekutiert. Wenige Tage vor dem Selbstmord Hitlers rief der Reichspropagandaminister Goebbels noch zum Endsieg auf. Dabei wurde er nicht etwa ausgepfiffen, ihm wurde noch zugejubelt. Wo die kämpfenden Truppen sich bereits zurückgezogen hatten, sollten rüstige Rentner und fanatisierte Jugendliche als Volkssturm und sogenannte Werwölfe in den Wäldern den Krieg weiter führen. Das war die irrwitzige Situation Ende April vor 60 Jahren. Als am 8. Mai bekannt wurde, dass der Krieg zu Ende sei, sprach niemand von Frieden, sondern nur vom Chaos und der eigenen Hilflosigkeit. Erst Jahre später haben wir erfahren, dass durch diesen Krieg 55 ¿ 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren haben. Zahlenmäßig die größten Verluste hatte die Sowjetunion, bezogen auf die eigene Gesamtbevölkerung war es Polen. 7,8 Millionen Deutsche hatten am Ende des II. Weltkrieges ihr Leben verloren, 11,5 Millionen deutsche Soldaten waren in Gefangenschaft. Etwa 30 Millionen Menschen waren im Frühsommer 1945 auf den Straßen Mitteleuropas unterwegs auf der Suche nach ihrer alten oder einer neuen Heimat. Bereits im November 1943 war in Teheran vereinbart worden, die Deutschen aus jenen Gebieten zu vertreiben, die Deutschland nach dem Ende des Krieges abtreten musste. Das mag eine Erfahrung aus den Regelungen nach dem I. Weltkrieg gewesen sein. Damals wurde die deutsche Bevölkerung aus den abgetrennten Landesteilen nicht ausgesiedelt. Bei Volksabstimmungen über die weitere Zugehörigkeit entschieden sich nach einigen Jahren fast immer Mehrheiten für Deutschland. Das sollte sich nicht wiederholen. Im Sommer 1945 waren gemessen an der Vorkriegssituation 10 % aller Deutschen tot oder verschollen und 20 % heimatlos. In Mitteleuropa hinterließ dieser Krieg nahezu apokalyptische Verhältnisse. Später hat man festgestellt, dass beim Internationalen Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes 17,5 Millionen nicht-deutsche Opfer des Nationalsozialismus registriert waren, nach denen von Angehörigen gesucht wurde oder die Nachweise der Verfolgung erbringen mussten. In den gleichen Jahren wurden Suchanfragen nach etwa 17 Millionen Deutschen gestellt, von denen etwa 14 Millionen geklärt werden konnten. Bis heute warten noch 1,4 Millionen ungeklärte deutsche Verschollenenschicksale der Aufklärung, davon allein 600.000 Zivilvermisste, aus den ehemaligen Vertreibungsgebieten. In den früheren sogenannten ¿Wehrmachtsauskunftsstellen für Kriegsgefangene¿ wurde nach dem Schicksal von über 18 Millionen Soldaten fast aller Nationen gefahndet und deren Schicksal erfasst. Die Abteilung für Internationale Angelegenheiten des Britischen Roten Kreuzes wurde 1955 dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Genf unterstellt. Sie spezialisiert sich auf die Aufklärung von vermissten Deutschen und Nichtdeutschen, die in nationalsozialistischen Lagern verschollen oder verschleppt worden sind. Im vergangenen Jahr sind noch über 203.525 neue Anfragen eingegangen. Auch heut, 60 Jahre nach Kriegsende, arbeiten dort noch 379 Mitarbeiter an der Klärung von Schicksalen aus der damaligen Zeit. Die Einrichtung wird voll aus dem Bundeshaushalt finanziert. Auch mit diesen Zahlen ist weder die Grausamkeit des Krieges noch der totale Zerfall der zivilen Strukturen und die Zerstörung Europas durch diesen Krieg zu beschreiben. Nach dem Ende des Krieges gingen alle Befugnisse an die jeweilige Besatzungsmacht über. In einem gemeinsamen Alliierten Kontrollrat sollten die Grundsätze der Besatzungspolitik, der Reparationsleistungen des zerschlagenen Deutschlands und der geplanten Deindustrialisierung auf den Stand von 1932 abgestimmt werden. In Japan, wo der Krieg noch andauerte, zündeten Amerikaner ihre ersten beiden Atombomben. Der Befehl dazu wurde vom amerikanischen Präsidenten aus der Potsdamer Konferenz heraus gegeben. Wichtiger als die lokale militärische Bedeutung dafür war die machtpolitische Demonstration gegenüber den anderen Alliierten, insbesondere gegenüber der Sowjetunion. Bereits im Mai 1946, also ein Jahr nach dem gemeinsamen Sieg über Deutschland, kommt es unter dem jeweiligen Einfluss der Besatzungsmächte zu völlig unterschiedlichen Entwicklungen. Damals sprach der englische Premierminister Churchill erstmals von einem ¿Eisernen Vorhang¿, der von Stalin in Europa und mitten im besetzten Deutschland errichtet worden sei. Im Dezember 1947 scheitert die Londoner Außenministerkonferenz, weil sich die Siegermächte nicht über eine gemeinsame Deutschlandpolitik einigen konnten. Als am 20. Juni 1948 in den Westzonen eine Währungsreform durchgeführt wurde, protestierte die Sowjetunion scharf und erklärte den Alliierten Kontrollrat als auf unbestimmte Zeit vertagt. Als weitere Reaktion darauf erfolgte bereits drei Tage später, am 23. Juni 1948, eine Währungsreform auch in der Sowjetischen Besatzungszone. Am Tag danach, am 24. Juni 1948. erklärte Stalin die Blockade Westberlins. Die Amerikaner begannen mit der Versorgung der Stadt durch eine Luftbrücke. Das war der sichtbare Beginn eines jahrzehntelangen Kalten Krieges zwischen den ehemaligen Siegermächten. Dessen Regeln waren bald deutlich erkennbar: die Amerikaner wagten nicht, mit Panzern nach Berlin durchzubrechen und die Sowjets wagten nicht, amerikanische Flugzeuge abzuschießen. Es war über Jahrzehnte ein Kalter Krieg mit politischen Verleumdungen, mit diplomatischen Schachzügen und militärischen Drohgebärden, aber auch mit der Respektierung der territorialen Einflusssphäre bei Verzicht auf die Anwendung militärischer Mittel. Das war Jahre später ebenso bei dem überraschenden Bau der Berliner Mauer oder der Entdeckung sowjetischer Raketen auf Kuba. In einem Gleichgewicht des Schreckens unter dem Eindruck der Atomwaffen ist zwar bis über die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aufgerüstet worden, uns aber ein erneuter und dann furchtbarer Krieg erspart geblieben. Beide deutsche Teilstaaten konnten sich nicht anders entwickeln, als es die Besatzungsmächte zuließen und aus ihrem Machtkalkül heraus notwendig schien. Die Sorge vor einem Wiedererstarken Deutschlands war groß und nach zwei Weltkriegen in einem Jahrhundert auch verständlich. In der sowjetischen Besatzungszone wurde demontiert was nützlich erschien und zielstrebig ein Staat mit zur Sowjetunion kompatiblen Strukturen aufgebaut. In den Westzonen wurde bald mit amerikanischer Hilfe die Wirtschaft wieder aufgebaut, weil man ein Bollwerk gegen die Ausbreitung des Bolschewismus schaffen wollte. Aus Sorge vor einem neuen starken zentralistischen Deutschland legten die westlichen Militärgouverneure Wert darauf, dass die Bundesrepublik föderalistisch aufgebaut wird und dies auch bleibt. Die Länder entstanden vor dem Bund. Die Besatzungsmächte stimmten zu, nachdem im Artikel 79 des geplanten Grundgesetzes zu den unveränderlichen, d. h. auch mit 2/3-Mehrheiten nicht veränderbaren Grundsätzen auch der föderale Staatsaufbau festgeschrieben worden war. Bayern hat als einziges Land dem Grundgesetz damals nicht zugestimmt; verteidigt es aber jetzt umso überzeugter. Das Wettrüsten während des Kalten Krieges hat die Planwirtschaften des Ostblocks ungleich mehr zerrüttet als die Marktwirtschaften im Westen. Die weitere Entwicklung ist bekannt. Mit dem unverhofften und so offensichtlich auch nicht gewollten Fall der Berliner Mauer wurde deutlich, was vorher in Ungarn demonstrativ vor den Kameras der Welt gezeigt worden war: das Zerschneiden des Stacheldrahtes zwischen den Blöcken des Kalten Krieges. Die Aufnahme von acht ehemaligen Ostblockländern in die EU am 1. Mai vorigen Jahres war der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. Wir sollten alles dafür tun, diese Entwicklung konsequent weiter zu führen. Zum ersten Mal in seiner ganzen Geschichte ist Deutschland nur von Staaten umgeben, die mit uns freundschaftlich verbunden sind. Noch nie war unsere Nation über sechs Jahrzehnte nicht in kriegerische Konflikte mit einem anderen Land verwickelt. Dennoch ist in dieser Zeit nicht weltweit Frieden eingetreten. Statistiker rechnen uns vor, dass es nach dem II. Weltkrieg weltweit über 195 Kriege oder kriegerische Konflikte gegeben habe. Lediglich 30 Tage wurden in dieser Zeit gezählt, in denen es nicht irgendwo einen mit militärischen Mitteln ausgefochtenen Konflikt gegeben habe. Ob ethnische, religiöse oder soziale Konflikte ¿ sie immer nur friedlich zu lösen, haben wir noch lange nicht gelernt. Die allermeisten dieser Konflikte fanden in nicht industrialisierten Ländern statt. Die Globalisierung der Wirtschaft hat uns Probleme geschaffen, für die wir noch keine Lösung haben. Wenn sie uns zu globalen Lösungen für soziale Spannungen zwingen sollte und wir dies mit friedlichen Mitteln erreichen würden, wäre dies ein echter Fortschritt. Das Ende des II. Weltkrieges war das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte. Fast 60 Millionen Menschen haben dafür mit ihrem Leben zahlen müssen. Wir müssen aus unserer Geschichte lernen, wozu Menschen fähig sind. Schon die ältesten Überlieferungen der Menschheit, ihre Mythen und Heldensagen handeln hauptsächlich von Mord und Totschlag. Die geschriebene Geschichte ist eine Geschichte von Kriegen. Die Fähigkeit, Frieden zu schließen, ist eine späte Errungenschaft der Zivilisationsgeschichte. Nach allen großen Kriegen strebten Menschen nach immerwährendem Frieden. Das war nach den beiden Weltkriegen des vorigen Jahrhunderts nicht anders als nach dem 30-jährigen Krieg. Mit der Schaffung der Vereinten Nationen 1946 ist eine Institution entstanden, die besser als alle früheren Versuche dabei helfen könnte. Die modernen Kommunikationsmöglichkeiten und die wirtschaftlichen Verflechtungen haben eine internationale Zusammenarbeit geschaffen, die es so noch nie gegeben hat. Wenn wir uns auf die geschichtlichen Wahrheiten nüchtern einlassen, wenn wir unsere Erinnerungen an menschliche Grausamkeiten und millionenfaches Leid und Elend nicht vergessen lassen und wenn wir die Kraft haben, Verführungen zu widerstehen und Konflikte in Respekt voreinander gemeinsam zu lösen, dann haben wir die Chance das friedliche Zusammenleben der Völker als lösbare Aufgabe für unser Jahrhundert anzunehmen. Voraussetzung ist ein ehrliches Erinnern als glaubwürdige Gedächtniskultur. Was eine Generation dabei verdrängt, bürdet sie unbewusst der nächsten auf. Nicht unaufgearbeitete Konflikte wollen wir weiter geben, sondern ein Erinnern, das uns empfindsam macht gegen jegliches menschenverachtende Unrecht. Impressum: Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Pressestelle Domplatz 4 39104 Magdeburg Tel: (0391) 567-6666 Fax: (0391) 567-6667 Mail: staatskanzlei@stk.sachsen-anhalt.de

Impressum:
Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt
Pressestelle
Hegelstraße 42
39104 Magdeburg
Tel: (0391) 567-6666
Fax: (0391) 567-6667
Mail: staatskanzlei@stk.sachsen-anhalt.de

Anhänge zur Pressemitteilung