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Magdeburg, den 11.10.2007

Regierungserklärung von Ministerpräsident Böhmer: ?Sachsen-Anhalt auf dem Weg in eine offene Gesellschaft?

Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 546/07 Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 546/07 Magdeburg, den 11. Oktober 2007 Regierungserklärung von Ministerpräsident Böhmer: ¿Sachsen-Anhalt auf dem Weg in eine offene Gesellschaft¿ Es gilt das gesprochene Wort! Siebzehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands und damit siebzehn Jahre nach der Wiedererrichtung unseres Landes Sachsen-Anhalt ist die Nähe zu unserem Nationalfeiertag eine verständliche Gelegenheit zu fragen, wo wir stehen und wie wir diese Zeit genutzt haben. Dabei hätten wir auch einen anderen Bezugspunkt wählen können. Am 21. Juli 1947, also vor 60 Jahren, wurde durch einen Befehl der sowjetischen Militärverwaltung aus der preußischen Provinz Sachsen und dem Freistaat Anhalt das Land Sachsen-Anhalt gegründet. Andere Länder wie Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen haben ihre Gründungsjubiläen von sechzig Jahren mit einem großen Festakt begangen. Wenn nicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung ¿ damals übrigens als einzige in Deutschland ¿ uns daran erinnert hätte, hätten wir selbst es nicht einmal zur Kenntnis genommen. Wir haben dafür im November dann gemeinsam an den 60. Jahrestag der Konstituierung des Landtages gedacht. Im Juli 1952 wurden die Länder in der inzwischen gegründeten DDR aufgelöst und 38 Jahre danach zum 14. Oktober 1990 zum zweiten Mal begründet. In diesen sechs Jahrzehnten sind sechs Kreisgebietsreformen durchgeführt wurden, zwei davon seit der Wiedergründung des Landes. Insofern ist es eher erstaunlich, wenn uns aus Umfragen berichtet wird, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl in unserem Land während der letzten Jahre deutlich gewachsen sei. Die Ergebnisse dieser Meinungsumfrage sind es, aus der sich aus der Sicht der Landesregierung Konsequenzen und Aufgaben ergeben, denen wir uns stellen müssen. Wir wissen, dass wir noch vor einer unverzichtbaren Reform der kommunalen Strukturen stehen. Die Landesregierung legt großen Wert darauf, diese Reform unter möglichst großer Beteiligung der kommunalen Verantwortungsträger zu organisieren und Strukturen zu finden, die für eine längere Zeit effektiv und ausreichend sind. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, uns unentwegt mit den eigenen inneren Strukturen zu beschäftigen, weder in der Kommunal- noch in der Bildungspolitik, wo die Länder auch eigene Kompetenzen haben. Den Vorwurf, dass die Länder ihre föderalen Kompetenzen als politische Spielwiese für Parteien missbrauchen könnten, wollen wir nicht bestätigen. Ich widerspreche auch dem Vorwurf, die Landesregierung würde mit der Kommunalen Gebietsreform das demokratische Engagement in den Gemeinden aushöhlen. 68,5 % aller Gemeinden in Sachsen-Anhalt haben weniger als 1000 Einwohner; 39,6 % sogar weniger als 500 Einwohner. In den beiden Altmarkkreisen haben 63,5 ¿ 67,2 % aller Gemeinden weniger als 500 Einwohner. Nach der letzten Gemeindewahl 2004 blieben in 360 Gemeinden ¿ das waren 32,1 % - nach der Wahl Ratssitze mangels Kandidaten unbesetzt, größtenteils in den sehr kleinen Gemeinden. Nach der Organisation zukunftsfähiger Untergliederungen und Strukturen brauchen wir Verlässlichkeit und Sicherheit, um uns konzentriert den anderen wichtigen Aufgaben der Zukunftssicherung zuwenden zu können. Dabei spüren wir jetzt, dass es ein Fehler war, beim Rückblick auf eigene Erfahrungen immer erst bei der Wiedervereinigung Deutschlands und der Wiederbegründung unseres Bundeslandes anzufangen. Wir werden die Erfahrungen der davor liegenden Jahrzehnte noch brauchen für die Lösung der Probleme der Zukunft ¿ und sei es, um die damals gemachten Fehler nicht zu wiederholen. Die Sicht unserer Bürgerinnen und Bürger auf ihre eigene Vergangenheit und deren kritische Bewertung der gegenwärtigen Probleme müssen wir nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern daraus auch Konsequenzen ziehen für unsere weitere politische Arbeit. In der vorangegangenen Plenarsitzung hat Ihnen der Finanzminister den Haushaltsentwurf für die Jahre 2008 und 2009 vorgelegt. Es sind die ersten Haushaltspläne ohne Neuverschuldung seit der Wiedergründung unseres Landes. Völlig zu Recht ist dieser Umstand gewürdigt worden. Er ist aber auch Verpflichtung. Er ist möglich geworden durch eine günstigere wirtschaftliche Entwicklung, die in zeitlichem und ursächlichem Zusammenhang steht mit sehr grundsätzlichen Reformen, die von der damaligen Bundesregierung im März 2003 eingeleitet wurden. Zu den vielen unterschiedlichen Wahrheiten, über die wir gegenwärtig sprechen, gehört auch, dass ähnlich mutige Reformen von Ökonomen in der ehemaligen DDR schon in den siebziger Jahren vorgeschlagen wurden. Schon damals war deutlich, dass wir uns hier viel größere soziale Leistungen gewährt hatten, als wir mit eigener Wirtschaftskraft erwirtschaften konnten. Hinter verschlossenen Türen wurde viel darüber diskutiert. Laut jetzt nachlesbaren Protokollen wurde dies abgelehnt durch die ¿grundlegende politische Erfahrung, dass der einmal erreichte Stand in der sozialen Versorgung nicht wieder preisgegeben werden darf¿. Die weitere Entwicklung führte zunächst folgerichtig in die eigene Insolvenz, dann in einen schmerzhaften Strukturwandel und gegenwärtig in eine nebulös-nostalgische Verklärung. Da wir alle nicht von Wunschdenken verschont bleiben ¿ wie wir uns jährlich bei den Haushaltsberatungen beweisen ¿ ist es hilfreich, uns immer wieder an diese eigene Vergangenheit zu erinnern. Die gegenwärtige Kommission zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung wird nicht ohne Ergebnis enden. Konsens besteht jetzt schon darüber, die Konditionen für weitere Schuldenaufnahmen stringent zu verschärfen. Die Bündnispflicht zum solidarischen Ausgleich zwischen den Ländern ist kein ehernes Naturgesetz und wird sicher einmal modifiziert werden. Dass der Solitarpakt II 2019 ausläuft und bis dahin stark degressiv ist, ist bekannt. Die Finanzhilfen aus der EU werden in der nächsten Förderperiode nach 2013 noch wesentlich geringer werden. Zunehmend sind wir auf die eigene Wirtschafts- und Steuerkraft angewiesen. Es wäre verantwortungslos, eine Ausgabenpolitik zu betreiben, die nur auf die Wirtschaftskraft anderer und Hilfen von außen setzt. Es wird nicht einfacher, aber deutlicher, wenn wir uns jetzt schon auf bereits bekannte Entwicklungen aufmerksam machen. Jährlich vermindert sich die Zahl der Einwohner unseres Landes aus unterschiedlichen Gründen um durchschnittlich zwischen 25.000 und 26.000 Personen. Das bedeutet jährliche Mindereinnahmen aus dem Finanzausgleich von 70 ¿ 80 Millionen ¿. Nach nur 17 Jahren nach der Wiedergründung unseres Landes gehören wir zu den am meisten verschuldeten Ländern in Deutschland. Gegenwärtig (2006) sind das 9.152 ¿ pro Einwohner, was eine Zinslast von knapp 1 Mrd. oder 440 ¿ pro Einwohner bedeutet. Die müssen wir jährlich zahlen, bis wir die Schulden los sind. Auch ohne weitere Neuverschuldung steigt die personenbezogene Schuldenquote durch die Verringerung der Einwohnerzahlen. Wenn wir diese Quote in Anbetracht der demografischen Entwicklung wenigstens konstant halten wollen, bedeutet dies eine jährliche Tilgung von 180 ¿ 190 Millionen ¿. Erst wenn wir mehr tilgen können, beginnt die eigentliche Entschuldung. Dies alles bei sinkenden Einnahmen aus den Finanzhilfeprogrammen. Wer jetzt für zusätzliche auf Dauer angelegte Ausgabenverpflichtungen des Landes wirbt, hat die Lehren aus der eigenen Geschichte nicht verstanden. Durch geschickte Kombination verschiedener Förderprogramme der EU und vom Bund bemühen wir uns, Landesmittel zur Kofinanzierung zu reduzieren. Im Ländervergleich führt das dazu, dass wir pro Einwohner zwar die höchsten Ausgaben leisten, aber für Investitionen die geringsten Landesmittel einsetzen. Mit dem Wegfall der Finanzhilfen von außen käme das Land in eine sehr schwierige Situation, wenn wir für den nichtinvestiven Bereich neue Verpflichtungen gesetzlich begründen würden. Deshalb wird die Landesregierung auf Vorschlag des Finanzministers mehrere Haushaltsstabilisierungsmechanismen einbauen, für die ich jetzt schon ihre Zustimmung erbitte. Dazu gehören der aufzubauende Pensionsfonds und die geplante Investitions- und Zukunftsstiftung für unser Land. Mit der letztgenannten wollen wir den Vermögensstatus des Landes stabilisieren und später einmal mehren. Außerdem brauchen wir den Aufbau einer Steuerschwankungsreserve, um nicht bei sinkenden Einnahmen sofort zur Neuverschuldung gezwungen zu sein. Die Zinserträge dieser Fonds sollen die Zinstilgung für den Schuldenberg erleichtern. Schwierig ist immer noch die Steuerung der Personalkosten und der großen Personalkörper Polizei und Lehrer. Bei beiden haben wir Überhänge und Defizite, die sich nicht gegenseitig ausgleichen können. Bei beiden brauchen wir noch Personalabbau und einen gestaffelten Einstellungskorridor. Dafür wurden mehrjährige Konzeptionen entwickelt. Nach den vom Finanzminister geleiteten Vorgesprächen bestehen berechtigte Hoffnungen, mit den Tarifpartnern auch für die Lehrer zu erfolgversprechenden Verhandlungen zu kommen. Schon die bundesgesetzlichen Pflichten belasten uns. Es gilt als unstrittig, dass die gleichen bundeseinheitlichen Ausgabenverpflichtungen für Länder und Kommunen unterschiedliche Auswirkungen haben. Sie sind abhängig von sozialen Parametern wie Arbeitslosigkeit und der demografischen Struktur der Bevölkerung und müssen durch die eigene Wirtschaftskraft ausgeglichen werden. Beispiele sind das Wohngeld und die soziale Grundsicherung bei den gebrochenen Erwerbsbiografien der jetzigen und besonders der zukünftigen Rentnergenerationen bei uns. Für uns ist Wirtschaftspolitik deshalb nicht Selbstzweck. Aber die Stärkung der eigenen Wirtschaftskraft ist der einzige Weg in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Nicht unter den abschirmenden Schutzstrukturen eines abgeschlossenen Wirtschaftsraumes mit nichtkonvertierbarer Binnenwährung, sondern in einem offenen System globaler Zusammenarbeit und weltweitem Wettbewerb müssen wir uns bewähren. Die uns zur Verfügung gestellten finanziellen Hilfen sind als Unterstützung zum Aufbau der Selbsthilfe gedacht und nicht zur Daueralimentierung. Wir sind dankbar dafür. Erfolgreich werden wir nur sein, wenn wir den Ehrgeiz, den Stolz und die Kraft aufbringen, möglichst bald nicht mehr darauf angewiesen zu sein. Wir müssen auch jene Mentalität überwinden, die das eigene Selbstwertgefühl vom Maßstab anderer abhängig macht. Natürlich braucht eine Leistungsbewertung Maßstäbe aus Vergleichen. Das gilt nicht nur im Sport, sondern auch in allen Politikfeldern. Es gibt Bereiche, in denen wir besser sind und andere, in denen wir noch schlechter sind als vergleichbare westdeutsche Länder. Wir jubeln nicht über die einen, weil sie mit fremdem Geld finanziert werden und wir lamentieren nicht über die anderen, weil sie Folgen einer früheren Politik in dieser Region sind. Aber wir sollten uns in der Zuversicht gegenseitig ermuntern, die Erfolge bald selbst finanzieren und die Defizite systematisch ausgleichen zu wollen. Ursprünglich hatte ich ein ganzes Zahlenwerk vorbereitet um im 18. Jahr der Wiedervereinigung den eigenen Leistungsstand im Vergleich zu den westdeutschen Flächenländern oder den anderen neuen Bundesländern zu messen. Ich halte das auch für jeden Fachausschuss für notwendig und bitte darum. Es schien mir aber mit der Würde und dem Selbstbewusstsein unseres Landes nicht vereinbar, uns an dieser Stelle immer nur an Anderen zu messen. Wir wollen unseren eigenen Weg gehen. Wir kennen unsere Probleme. Wenn wir die richtigen Prioritäten setzen, werden wir auch die Kraft haben sie zu lösen. Aber eben nur dann. Diese Kraft schöpfen wir aus den Erfahrungen unserer eigenen Geschichte. Es gehört zu den Vorteilen eines föderalen Systems, unterschiedliche Wege und Strukturen gehen zu können. In einigen Gestaltungsbereichen stellen wir jetzt fest, dass andere Länder mit einem geringeren Mitteleinsatz gleiche oder sogar bessere Erfolge haben. Ich bitte jeden Fachausschuss sich darüber zu informieren. Dann ist für uns eine kritische Strukturreform wichtiger als mehr Geld für ein nicht effektives System. Wenn wir uns unkritisch selbst für optimal halten und nur mehr Geld fordern, würden wir die Chancen des Föderalismus ungenutzt lassen. Deshalb bitte ich in allen Bereichen zu beobachten wie andere Länder die meist gleichen Probleme lösen. Es ist bestimmt falsch, alles immer nur auf Finanzierungsprobleme zu reduzieren. Wir in diesem Teil Deutschlands, wir haben allein durch die Wiedervereinigung einen Transformationsprozess aller gesellschaftsrelevanten Strukturen hinter uns, der uns auch Erfahrungen gelehrt hat im Umgang mit Reformen, die das gesamte Deutschland noch brauchen wird. Das begann mit der Einbeziehung in den Rechtsrahmen des Grundgesetzes und damit einer Änderung fast aller Rechtsnormen und neuen Rechtsstrukturen. Diese Reformen sind erstaunlich konfliktarm verlaufen. Manches wurde auch vom Grundsatz her missverstanden. Die bittere Aussage: Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat vermischt unzulässig die Begriffe. Niemand würde formulieren: Wir wollten Gesundheit und bekamen das Gesundheitswesen. Der Rechtsstaat ist eine Struktur, die sich an selbstgesetzte Normen bindet, Willkür vermeiden und das Suchen nach Gerechtigkeit befördern soll. Mehr als mit der Verpflichtung unter vergleichbaren Bedingungen und Voraussetzungen unabhängig von der Person nach gleichen Regeln zu entscheiden, wird sich eine Gesellschaft der gefühlten Vorstellung von Gerechtigkeit nicht nähern können. Mit dem Begriff der ¿sozialen¿ Gerechtigkeit, mit dem politische Parteien im Wettbewerb argumentieren ohne ihn präzis zu definieren, wird diese Undeutlichkeit noch größer. Sie macht einen großen Teil der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion über unser Selbstverständnis aus. Sozialwissenschaftler ermitteln in allen Teilen Deutschlands zunehmend den verbreiteten Eindruck von wachsender Ungerechtigkeit. Bei der Frage nach den eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit gehen die Antworten weit auseinander. Eine große Mehrheit plädiert dafür, dass ¿der Staat für alle, die arbeiten wollen, einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen¿ sollte. Das kommt uns nicht unbekannt vor. Deshalb haben wir auch mit dem Projekt ¿Bürgerarbeit¿ begonnen. Nach unserer Vorstellung gehört es zur Würde des Menschen, dass er nicht nur mit Geld getröstet wird, sondern dass wir jedem eine wie auch immer geartete gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen wollen. Solange die Umstände es uns ermöglichen, wollen wir dieses Projekt fortsetzen. Diejenigen, die sich selbst als Verlierer der Wiedervereinigung bezeichnen, werden wir nicht aufgeben. Wir werden auch weiter versuchen, sie zu integrieren. Der beste Weg ist der über einen Arbeitsplatz. Ein zugegeben schwieriges Problem in einer offenen, dem Rechtsstaatsgedanken verpflichteten Gesellschaft ist der Widerstand gegen gesellschaftspolitisch extreme Aktivitäten. Geschlossene Gesellschaften mit eigener Staatsdoktrin lösen solche Probleme mit uns bekannten Methoden staatlicher Machtanwendung. Eine offene Gesellschaft muss aushalten, was sie nicht verbieten kann. Das heißt aber nicht, dass wir alles unwidersprochen hinnehmen müssten. Unterschiedliche Urteile der verschiedenen Ebenen der Rechtsprechung beweisen nur die Schwierigkeiten dabei. Umso wichtiger ist es, die eigene Bevölkerung gegen diese Denkinhalte zu immunisieren. Als während des letzten Sachsen-Anhalt-Tages überraschend eine kleine Gruppe verirrter Rechtsextremer durch die Straßen zog, haben sich erfreulich viele umgedreht und diese demonstrativ gering schätzend einfach ignoriert. Schneller war noch nie ein solcher Spuk zu Ende. Je besser es uns gelingt, für die Akzeptanz demokratischer Strukturen zu werben, umso geringer wird die Empfänglichkeit für dieses Gedankengut. Wir wissen, dass wir damit in den Schulen aber auch bei manchen Familien beginnen müssen. Unserem Netzwerk für Demokratie und Toleranz haben sich inzwischen 268 Organisationen und Vereine angeschlossen. Nur mit einer breiten und im einzelnen sehr unterschiedlichen Bewegung werden wir die Menschen erreichen und erfolgreich sein. Die gewollte Offenheit unserer Gesellschaft zwingt uns, durch Überzeugung jene Akzeptanz zu erreichen, die eine andere Gesellschaft mit staatlicher Gewalt erzwingen wollte. Wir haben dieses Ziel noch nicht erreicht. Wir wissen aber auch, dass wir unsere Offenheit wieder verlieren würden, wenn wir es nicht erreichen sollten. Das sichert uns die Zustimmung vieler, denen das offene Selbstverständnis gelebter Demokratie wichtig ist. Es ist unverzichtbar, uns an das Ende der sog. Weimarer Demokratie zu erinnern, die nach nur 14 Jahren von einer gewählten Diktatur abgeschafft wurde. Bereits 1930 hatte der für den Zeitgeist sensible Thomas Mann in seiner berühmten ¿Deutschen Ansprache¿ als Appell an die Vernunft die ¿primitiv-massendemokratische Jahrmarktsrohheit¿ angeprangert und von einer Kulturnation erwartet, dass diese nicht einer ¿verstandesschlichten, strammen Biederkeit nationaler Simplizität¿ verfällt. Da jeder weiß wie die Geschichte weiterging, gilt es den Anfängen zu wehren und z. B. diese Rede auch in jeder Schule zu erklären. Es ist unbestritten, dass schwierige soziale Probleme die Akzeptanz für demokratische Entscheidungsfindung eher belasten als begünstigen. Aus den alten Bundesländern sagen uns Fachwissenschaftler, dass es dort in den frühen 50er Jahren durchaus noch kein gefestigtes Demokratieverständnis gab und dass dies erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zu Beginn der 60er Jahre gewachsen sei. Unter dem schwierigen wirtschaftlichen Transformationsprozess sollten wir uns deshalb derzeit nicht überfordern. Aber es wäre sicher falsch, dies jetzt nicht als unsere Aufgabe zu erkennen. Die wirtschaftliche Entwicklung läuft gegenwärtig für deutsche Verhältnisse relativ gut. Auch wir profitieren davon. Wie im Vorjahr haben wir auch im 1. Halbjahr diesen Jahres überdurchschnittliche Wachstumsquoten mit steigenden Exportanteilen. Es gibt weiterhin einen Zuwachs an versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen und zunehmenden Bedarf an Facharbeitern. Darauf wird die Arbeitsverwaltung mit ganz gezielten Qualifizierungsangeboten reagieren. Bis September konnten in diesem Jahr 173 gewerbliche Investitionsvorhaben umgesetzt werden mit einem Gesamtvolumen von 800 Mio. ¿ als Grundlage für 3.200 neue Dauerarbeitsplätze. Erfreulich ist die Zahl von 120 Erweiterungsinvestitionen in diesem Jahr als Zeichen des eigenen Wachstums. Derzeit laufen Verhandlungen mit mehreren potentiellen Investoren auch größerer Projekte, von denen bis Ende des Jahres Entscheidungen über ein Volumen von mehr als 500 Mio. ¿ erwartet werden. Damit werden weitere ca. 800 neue Arbeitsplätze verbunden sein. Auch die anderen Ländern berichten über ähnliche Entwicklungen. Nach der abgeschlossenen Transformation der Staats- und Rechtsstrukturen und nachdem der wirtschaftliche Transformationsprozess seine Talsohle durchschritten hat, müssen wir jetzt selbstkritisch feststellen, dass wir dem mentalen Transformationsprozess zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet haben. Mit der Wiedervereinigung sind wir in kürzester Zeit in die Strukturen einer offenen Gesellschaft gekommen, die wir wollten, aber auf die wir nicht vorbereitet waren. Am Beispiel eines Buches wird dies deutlich. 1989 veröffentlichte der in Magdeburg geborene, philosophisch gebildete ehemalige Nomenklaturkader der SED, Rolf Henrich, beim Rowohlt-Verlag in Hamburg sein Buch über den vormundschaftlichen Staat. Es ist eine brilliante Abrechnung mit dem DDR-Regime, wofür er nicht gelobt wurde. Das Buch war hier verboten, wurde heimlich gelesen und viel diskutiert und geschätzt. Nach der Öffnung der Mauer wurde es Anfang 1990 vom Kiepenheuer-Verlag nur für die DDR nachgedruckt und jeder konnte es kaufen. Nur noch Wenige haben sich dafür interessiert. Wir alle waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt und mit der Lösung aktueller Probleme im ständigen Wandel. Niemand hatte Zeit für demokratietheoretische Diskussionen. Wenn wir jetzt aus dem Sachsen-Anhalt-Monitor erfahren, dass eine überwiegende Mehrheit das Demokratieprinzip als erstrebenswert empfindet, aber über die von uns praktizierte Art ein noch größerer Teil unserer Bürger schwer enttäuscht ist, dann können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Manches abgegebene Urteil empfinde ich als ungerecht. Aber die repräsentative Demokratie ist erklärungsbedürftig. Die Sachzusammenhänge, aus denen heraus wir entscheiden müssen, sind es auch. Wir müssen uns mehr Zeit nehmen, sie zu erklären. Ich bin dankbar für jeden schüchternen Versuch unserer Medien, einen solchen klärenden Diskussionsprozess zu begleiten. Sie müssen das in ihren eigenen Strukturen gestalten. Die Analyse der jeweils eigenen Zwänge, die Tony Blair in seiner Rede beim Abschied aus dem Amt über die Medien in unserer Gesellschaft beschrieben hat, trifft auch auf uns in Sachsen-Anhalt zu. Trotzdem frage ich mich, warum wir uns immer nur mit der Repressionspolitik der ehemaligen DDR beschäftigen, so schmerzhaft diese auch war, und nicht mit der sozial motivierten Umverteilungspolitik in einem zwangsläufig abgeschotteten Wirtschaftsraum, die genau diese Repressalien notwendig gemacht hat. Eine offene Analyse des sog. Schürer-Berichtes vom Oktober 1989 ist bisher nur in der Fachliteratur erfolgt. Vor etwa einem Jahr war ich zu einem 10-jährigen Betriebsjubiläum nach erfolgreicher Zweitprivatisierung in einem Motorenwerk eingeladen. Gleichzeitig feierte der Betrieb sein 60-jähriges Bestehen. Der Investor hatte einen zweistelligen Millionenbetrag investiert und war stolz über die steigende Umsatzentwicklung und auf seine guten Mitarbeiter. Es wurden auch wieder neue Arbeitsplätze geschaffen. Der Sprecher der Mitarbeiter kritisierte massiv die Treuhand, die diesen Betrieb über viele Jahre nicht losgeworden war. Lobend wurde erwähnt, dass sie schon zu DDR-Zeiten viel in das NSW-Gebiet exportiert hätten und zweimal Messe-Gold bekamen. Häufig hätten sie ihre Normen nicht nur erfüllt, sondern sogar übererfüllt. Einen solchen Betrieb nicht für wettbewerbsfähig zu halten, wäre schlicht eine Demütigung. Was er offenbar nicht wusste war, dass seine Motoren im NSW-Ausland nur unter den Herstellungskosten verkaufbar waren und dass die Deckung über den Staatshaushalt durch Kaufkraftabschöpfung an anderer Stelle erfolgte. Damit konnte kein Investor mehr rechnen. Erst nach erheblichen Modernisierungsinvestitionen, nach Strukturbereinigungen und Entlassung vieler ehemaliger Mitarbeiter wurden Stückkosten erreicht, die in einem offenen Markt umsetzbar waren. Wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, uns solche Zusammenhänge immer wieder zu erklären, bleibt viel unnötige Bitterkeit übrig und ein verklärter Rückblick auf eine vergangene Zeit. Die Treuhand hatte übrigens sechs Jahre lang das jährliche Defizit dieses Betriebes in Millionenhöhe ausgeglichen, weil sie ihn unbedingt erhalten wollte und für prinzipiell privatisierungsfähig gehalten hatte. Das hätte man auch sagen können. Die gegenwärtigen sozialen Leistungen werden mit einem verklärenden Rückblick auf die Sozialpolitik der DDR gemessen. Das ist menschlich verständlich, aber sachlich falsch. Zur Wahrheit gehört auch, dass die Sozialleistungen finanziert wurden unter Verzicht auf Modernisierungsinvestitionen in den Betrieben und durch Verschuldung. Hätte die DDR weiter existieren müssen, hätten die Sozialleistungen um mindestens ein Drittel reduziert werden müssen. Nach eigener Einschätzung wäre sie dadurch unregierbar geworden. Da dieser Staat nicht weiter existieren musste und die Verbindlichkeiten von der Bundesregierung übernommen wurden, war für viele nicht einmal erkennbar, in welches Desaster wir uns hineingewirtschaftet hatten. Deshalb ist der DDR-Rückblick auch als Maßstab falsch zur Beurteilung unserer Probleme und zukünftiger Entscheidungen. Wenn beispielsweise 59 % der Befragten in unserem Land das Angebot der Gesundheitsversorgung während der DDR-Zeit als besser als heute beurteilen, ist das eine einseitige Sicht. Damals gab es keine Zuzahlungspflicht, grundsätzlich kostenlose Leistungen und eine nutzerfreundliche Organisation in Behandlungszentren. Das ist unbestritten. Wahr ist aber auch, dass 1975 fast 80 % aller Krankenhäuser der DDR älter waren als das Jahrhundert und dringend sanierungsbedürftig. Seit 1991 haben wir ca. 3,2 Mrd. ¿ in die Krankenhäuser unseres Landes investiert. Die enorme Erweiterung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten haben dazu geführt, dass in nur 17 Jahren sich die durchschnittliche Lebenserwartung unserer Männer und Frauen um 4 ¿ 5 Jahre verlängert hat. Zusätzlich zu allen staatlichen Finanztransfers sind im Regelkreis der GKV jährlich insgesamt 3,5 Mrd. ¿ und im Regelkreis der GRV jährlich ca. 13,5 Mrd. ¿ von West nach Ost geflossen. Dass eine wesentlich verbesserte Betreuung auch mehr Geld kostet, kann man überzeugend erklären. Der Einwand, dass das ¿die anderen¿ bezahlen sollen, ist dagegen nicht überzeugend. Ich vermute, die genannten 59 % würden auch nicht auf die teuren Möglichkeiten des modernen Gesundheitswesens verzichten wollen. Dass Sozialpolitik in einer geschlossenen Gesellschaft auch ganz andere Funktionen hat, hat Friedrich A. Hayek schon 1944 in seinem berühmten Buch ¿Der Weg in die Knechtschaft¿ beschrieben. Es ist zwar 1990 und 2003 noch einmal aufgelegt worden, aber wer in unserem Land wird das schon gelesen haben? Über die Strukturen und Konsequenzen einer offenen Gesellschaft hat Karl Popper schon 1957 geschrieben. Mehrere Generationen im westlichen Teil Deutschlands kennen es. Es ist 2003 in 8. Auflage wieder erschienen. Ich konnte nicht erfahren, ob es im Sozialkundeunterricht unserer Schulen überhaupt erwähnt wird. Die aus allen Befragungen deutlichen Bewertungsunterschiede bei gesellschaftlichen Kommunikationsbegriffen zwischen Ost- und Westdeutschen ist nicht nur die Folge unterschiedlicher sozialkundlicher Ausbildung. Etwa 57 % unserer Sozialkundelehrer haben für dieses Fach noch keinen Qualifizierungsnachweis. Zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung werden wir in einer Bildungsoffensive diese demokratietheoretischen Grundlagen und Sachzusammenhänge besser vermitteln müssen. Die Fortführung der universitären Nachqualifizierung und die Lehrerfort- und Weiterbildung im Fach Sozialkunde ist eine zwingende Konsequenz aus den Befragungsergebnissen. Auch der Umgang mit der von uns allen gewollten Freiheit ist nicht im Selbstlauf erlernbar. Er ist sogar schwieriger als vermutet. Wer Freiheit will, muss auch lernen, mit Unterschieden zu leben und mit der Qual eigener Entscheidungen. Zur Erläuterung darf ich Erfahrungen aus dem Kultusministerium berichten. Noch nie hatten die Hochschulen unseres Landes soviel innere Autonomie wie jetzt. Früher bekam der Minister häufig Beschwerdebriefe wegen seiner Entscheidungen in die angemahnte innere Hochschulautonomie hinein. Jetzt ist mit den Rahmenzielvereinbarungen den Hochschulen ein noch größerer Entscheidungsbereich zugestanden. Seitdem bekommt der Minister Briefe mit der Aufforderung, Dinge anzuordnen, über die man sich untereinander nicht einigen kann. Das nicht nur einmal, sondern immer öfter. Auch die Kommunalaufsicht kennt solche Anliegen. Deshalb habe ich Verständnis dafür, wenn nicht Wenige unserer Bürger sich allein gelassen fühlen, weil sie Dinge entscheiden sollen, die früher der Staat für sie entschieden hat. Nicht Wenige sagen dann, der Staat oder die Abgeordneten kümmerten sich nur noch um sich selbst und nicht mehr um die Bürger im Land. Hier würde ein formal aufklärendes Gespräch vermutlich mehr schaden als helfen. Dass Freiheit in einer offenen Gesellschaft mehr ist als Reisefreiheit, ist unbestritten. Eine unvorbereitete Entlassung aus einem vormundschaftlichen Staat in die eigene Mündigkeit ist ohne solche Anpassungsprobleme nicht denkbar. Nur wenn wir uns einlassen auf viele solcher Gespräche werden wir davon überzeugen können, dass auch gewählte Abgeordnete nicht für alles zuständig sein können oder sein dürfen. Damit kommen wir zu Problemen, die weit über unsere Region und Gesellschaft hinaus gehen. Eine offene Gesellschaft wäre eine sinnentleerte Gesellschaft, wenn sie ohne innere Bindungswerte bliebe. Sie ist anfällig für ideologische Versprechungen und nur gewachsenen und gefestigten Demokratien zumutbar. Gesellschaften werden zusammengehalten durch einen Grundbestand verbindlicher Werte und eine motivierende Idee. Bisher waren das immer Hoffnungen, die über das eigene Leben hinaus reichten. Der Historiker Joachim Fest nannte die Idee des Sozialismus eine letzte große Gesellschaftsutopie, die ein pseudoreligiöses Welterklärungssystem bot mit der Verheißung auf wachsenden Wohlstand. Für diese Idee sind hunderte Menschen gestorben und im Namen dieser Idee viele tausende verbannt oder hingerichtet worden. Nach dem Scheitern der Utopien entstünde überall Orientierungsnot und Unsicherheit . Das individuelle Streben nach Wohlstand in einer Wettbewerbsgesellschaft ist sicher keine Idee, die Menschen zusammen hält. Insofern bestünde eine große Verführbarkeit durch neue Heilslehren und Kameradschaftsangebote. Vieles spricht dafür, dass wir das auch in unserem Land erleben. Offene Gesellschaften sind besonders dann verführbar, wenn soziale Probleme Zweifel am Funktionieren der Demokratie aufkommen lassen. Diese Zweifel sind uns durch Umfragen bestätigt worden. Deshalb haben wir mehrere Programme aufgelegt, die die schulische Ausbildung verbessern und die berufliche Eingliederung auch für Problemjugendliche erleichtern sollen. Deshalb ist es aber auch notwendig, ein gemeinsames Verfassungs- und Demokratieverständnis aufzubauen und ein auf Toleranz und Respekt vor der Würde des Anderen beruhendes verbindliches Wertegerüst zu vereinbaren. Dass kann auch eine offene Gesellschaft zusammenhalten. Wenn die günstige wirtschaftliche Entwicklung noch deutlicher den Arbeitsmarkt entlastet, wird sie auch deutlicher in der Bevölkerung erlebbar sein. Deshalb werden wir in diesem Bereich auch weiterhin unsere Prioritäten setzen. Erfolg schafft Selbstvertrauen und Selbstbestärkung. Damit dürfte auch das Vertrauen in jene Strukturen wachsen, die diesen Erfolg mit aufgebaut haben. Die schon mehrfach benannte Umfrage hat aber auch gezeigt, wie viel unsere Bürger von uns erwarten und wie viele von uns enttäuscht sind. Wir haben gemeinsam die Chance, besser zu werden. Dabei werden wir aber noch viel Verständnis füreinander brauchen. Impressum: Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Pressestelle Hegelstraße 42 39104 Magdeburg Tel: (0391) 567-6666 Fax: (0391) 567-6667 Mail: staatskanzlei@stk.sachsen-anhalt.de

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