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Magdeburg, den 19.06.2008

75. Jahrestag der Errichtung des KZ Lichtenburg / Innenminister Holger Hövelmann: Die Geschichte darf sich nicht wiederholen

Ministerium des Innern - Pressemitteilung Nr.: 150/08 Ministerium des Innern - Pressemitteilung Nr.: 150/08 Magdeburg, den 20. Juni 2008 75. Jahrestag der Errichtung des KZ Lichtenburg / Innenminister Holger Hövelmann: Die Geschichte darf sich nicht wiederholen Anlässlich der Gedenkveranstaltung mit anschließender wissenschaftlicher Tagung zum 75. Jahrestag der Errichtung des Konzentrationslagers Lichtenburg und des Verbots der SPD wandte sich Innenminister Holger Hövelmann (SPD) an die Tagungsteilnehmer: ¿Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen, ein Redebeitrag zur Geschichte von nationalsozialistischer Verfolgung und sozialdemokratischem Widerstand ist auch in einem gewöhnlicheren Rahmen als diesem keine Aufgabe, die man leichthin absolvieren könnte. An diesem Ort ist unver­meidlich ein Gefühl der Beklemmung damit verbunden, hier, im Angesicht der Kerker, in denen Menschen misshandelt, ernie­drigt und ¿ scheinbar ¿ ihrer Würde beraubt wurden, weil sie dieselben Grundwerte und -überzeugungen hatten wie wir. Mit Reichstagsbrand und Notverordnung, mit der Verwendung der SA-Schlägerbanden als ¿Hilfspolizei¿, mit dem Ermäch­tigungsgesetz und der Errichtung der ersten Konzentrations­lager begann der Weg Deutschlands in eine zwölfjährige Diktatur, deren Programm Unterdrückung, Angriffskrieg und Völkermord waren und die erst von außen aufgehalten und beseitigt werden konnte. Es ist gut, sich immer wieder vor Augen zu führen, wie es mit Deutschland so weit kommen konnte und welche historische Rolle die Sozialdemokratie spielte. Mit der Novemberrevolution 1918 und der Weimarer Verfassung 1919 war endlich auch auf deutschem Boden eine demokratisch verfasste Republik mit garantierten Grundrechten und Gewal­tenteilung entstanden, eingebunden in die Völkergemeinschaft. Dass diese Republik schon elf Jahre später sturmreif geschos­sen wurde, ist weder allein aus den institutionellen Mängeln der Verfassungsordnung zur erklären ¿ die gab es in anderen westeuropäischen Staaten auch ¿ noch aus äußeren Druckfakto­ren wie Reparationslasten und Weltwirtschaftskrise. Die erste Demokratie auf deutschem Boden ging vor allem und in erster Linie an einem Mangel an Demokraten zugrunde: · Auf der politischen Rechten gab es von Anfang an, lange vor dem Aufstieg der NSDAP, ein bürgerlich-reaktionäres Lager aus der Deutschnationalen Volkspartei, dem Stahlhelm und Teilen der Deutschen Volkspartei, das mit der Monarchie eng verbunden gewesen war, der Demokratie offen feindlich gegenüberstand und großen Einfluss in Justiz und Beamtenschaft sowie im Großagrariertum und der Industrie besaß. Dieses Lager wuchs auf Kosten der demokratischen bürgerlichen Parteien, die die Verfassung mittrugen. Mit der NSDAP entstand eine Kraft, die diese demokratiefeindliche Grundhaltung radikalisierte, antisemitisch auflud und unter den Bedingungen rasant wachsender Massenarbeitslosigkeit die Abstiegsängste gerade der unteren Mittelschichten nutzen und missbrauchen konnte. Auf der politischen Linken gab es mit der KPD, die nach der Vereinigung mit dem linken Flügel der USPD zur Massenpartei geworden war, eine wachsende Kraft, die die Vorteile der demokratischen Republik auch für die Kämpfe der Arbeiterbewegung ignorierte, die SPD als Hauptfeind auserkoren hatte und die Errichtung eines Sowjetdeutschland propagierte. · Von Beginn an schwach ausgeprägt war das Lager der verfassungstreuen bürgerlichen Mitte um das an der katholischen Soziallehre orientierte Zentrum und die liberale Deutsche Demokratische Partei. · Die Sozialdemokratie hatte in dieser Konstellation neben diesen kleineren Parteien keine natürlichen Bündnispartner. Der Weg einer Einbindung der KPD in parlamentarische Mehrheiten in einzelnen Ländern wurde von der Parteiführung gestoppt, teilweise unter Zuhilfenahme der Reichswehr. Kooperationen mit der Rechten im Reichstag waren instabil und schwächten die parlamentarische Demokratie weiter. Der 23. März 1933, der Tag der Entscheidung des Reichstages über das Ermächtigungsgesetz, ist für die deutsche Sozialdemokratie in der Rückschau ein Tag des Stolzes und der tiefen Niederlage zugleich: · ein Tag des Stolzes, weil die SPD stellvertretend für alle aufrechten Deutschen als einzige Partei Nein sagte: Die Kommunisten waren bereits verboten, ihre Abgeordneten inhaftiert oder geflohen. Die geschrumpften Parteien der demokratischen Mitte versuchten durch Zustimmung ihre Existenz unter dem NS-Regime zu retten. Die SPD widerstand; · ein Tag der tiefen Niederlage, weil aus dieser Ablehnung kein organisierter Widerstand hervorging. Die SPD war zu diesem Zeitpunkt zerrissen zwischen der ins Exil gegangenen Mehrheit des Parteivorstandes, die die Arbeit in der  Illegalität zu organisieren begann, und der in Deutschland gebliebenen Vorstandsminderheit, die vergebens versuchte, die Legalität der Organisation zu bewahren, die aber bereits vor dem Verbot am 21. Juni 1933, heute vor 75 Jahren, zerfallen war. Über diese beiden Linien können wir heute nicht moralisch richten. Wir können aber Lehren daraus ziehen, vor allem die Lehre, dass Widerstand nicht zu spät ansetzen darf und dass eine Partei allein einen demokratischen Staat nicht aus einer Minderheitenposition tragen kann. Nach einer Statistik der Gestapo saßen sechs Jahre später in Deutschland 302.562 politische Häftlinge ein, der weit überwiegende Teil davon aus der Arbeiterbewe­gung. Bis 1944 ¿ noch vor dem 20. Juli ¿ wurden laut NS-Justizministerium 11.881 Todesurteile vollstreckt. Die in den KZs ermordeten oder auf andere Weise umge­kommenen Häftlinge sind nicht einmal dabei. Sozialdemokraten haben im Widerstand und im Exil unermüdlich und mit höchstem persönlichen Risiko an einer besseren Zukunft für Deutschland gearbeitet. Es bedurfte erst der militärischen Niederlage des Hitlerregimes, ehe die Voraussetzun­gen für einen Neubeginn geschaffen werden konnten. Und es brauchte weitere 45 Jahre, bis Sozialdemokraten vereint in ganz Deutschland wieder für die soziale Demokratie streiten konnten. Am Anfang habe ich gesagt, dass die NS-Schergen die Insassen der Lichtenburg und all der anderen Konzentrationslager ihrer Würde berauben wollten. Doch all die Demütigungen, Bestrafungen und Folterungen konnten die Würde der Gefangenen nicht brechen, im Gegenteil: Ihr Durchhaltevermögen, ihr Widerstand, ja, auch ihr Sterben in ungebrochener Überzeugung strahlen bis heute große Würde und Menschlichkeit aus. Gedenkstätten wie die, die hier entstehen wird, mahnen uns nicht nur, zu welcher Barbarei Menschen fähig sind, sondern zeigen auch, mit welcher moralischen Kraft sie noch unter den schlimmsten Bedingungen widerstehen können. Das Grundgesetz, das noch unter dem Eindruck der von außen niedergerungenen Naziherrschaft geschrieben wurde und das seit nunmehr bald 18 Jahren für ganz Deutschland gilt, postuliert nicht ohne Grund gleich am Anfang und ohne jede Einschränkung: ¿Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.¿ Dieser Anspruch ist heute für alle demokratischen Kräfte in Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Und er markiert zugleich die Trennlinie zu den Rechts­extremisten egal welcher Schattierung, die die Wahnvorstellung von der biologisch begründeten Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen propagieren. Unser Feind ist der gleiche geblieben, auch wenn die gesellschaftlichen Bedin­gungen der heutigen Bundesrepublik in keiner Weise denen der Weimarer Republik gleichen. Selbst ein scheinbar so harmloser Slogan wie der der jüngsten NPD-Mitgliederwerbekampagne ¿Sozial geht nur national¿ macht die fundamentalen Unterschiede zu unserem eigenen Gesellschaftsbild deutlich. NPD und Gleich­gesinnte wollen ¿Gemeinschaft¿ herstellen durch die aggressive Abgrenzung nach außen; ihre ¿Volksgemeinschaft¿ entsteht nicht etwa durch gerechte Verteilung von Chancen oder fairen Interessenausgleich nach innen, sondern durch den Hass auf andere Völker, Religionen und sogenannte ¿Rassen¿. Für Demokratie und Zivilisation gibt es keine Ewigkeitsgarantie. Als vor 75 Jahren kommunistische und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, Gewerkschafts­funktionäre und viele andere, die dem NS-Regime im Wege waren, in der Lichtenburg eingekerkert wurden, da waren kaum mehr als drei Jahre vergangen, seit der letzte sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller ¿ der letzte demokratisch legitimierte Reichskanzler überhaupt ¿ zurücktreten musste. Der Verfall der Republik schritt unter dem Druck ihrer Feinde von innen und der Weltwirtschafts­krise von außen rasch voran. Die Lehren aus dieser Degeneration und Zerstörung einer zivilisierten Gesellschaft sind in Deutschland verinnerlicht worden, müssen aber von jeder Generation neu angeeignet werden, wenn Geschichte sich nicht wiederholen soll. Eine dieser Lehren ist: Die Demokratie muss eine wehrhafte Demokratie sein, die sich gegen die Feinde der Freiheit rechtzeitig, vorausschauend und entschieden zur Wehr setzt. Was sind die Bausteine für eine wehrhafte Demokratie? · Der erste und wichtigste Baustein sind Bürgerinnen und Bürger, die sich ihrer demokratischen Rechte bewusst sind, sie aktiv wahrnehmen und damit die demokratischen Institutionen legitimieren. Ich unterstütze nachdrücklich die Empfehlungen der Autoren einer in dieser Woche vorgestellten Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, die zur Immunisierung gegen rechtsextremes Gedankengut den Ausbau demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten gerade für junge Menschen vorschlagen. · Der zweite Baustein sind Organisationen, die politischen Willen auf allen Ebenen der Gesellschaft tragen, formulieren, weiterentwickeln und durchsetzen können. In Deutschland hat sich die Demokratie historisch als Parteiendemokratie entwickelt. Deshalb ist es kein gutes Zeichen, wenn alljährlich die sinkenden Mitgliederzahlen von Parteien veröffentlicht werden, als handle es sich um ein Naturgesetz. Wir brauchen den Mut, wieder offen um die verbindliche Mitwirkung in Parteien, aber ebenso in Gewerkschaften und anderen Verbänden zu werben. Eine Zuschauer­demokratie ist eine gefährdete Demokratie. · Der dritte Baustein sind Gesetze und ausführende Organe, die die potentiellen Opfer vor politisch motivierter Gewalt schützen und die Feinde der Freiheit daran hindern, die demokratischen Institutionen zu missbrauchen, auszuhöhlen, zu bedrohen oder gar zu beseitigen. Zu diesen Gesetzen, die die Demokratie schützen sollen, gehört die Bestimmung in Artikel 21 des Grundgesetzes: ¿ Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grund­ordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungs­widrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.¿ Es gibt in unseren Gesetzen ¿ auch im Grundgesetz ¿ wesentlich unklarere Normen. Diese ist glasklar. Unsere Aufgabe ist in einem Fall wie der NPD eigentlich nur zu prüfen, ob die genannten Voraussetzungen erfüllt sind und ob ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit gutem Aussicht auf Erfolg geführt werden kann. Denn selbstverständlich besteht Einigkeit darüber, dass die antragsberechtigten Verfas­sungsorgane ¿ Deutscher Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung ¿ nur bei solch gesicherten Aussichten nach Karlsruhe ziehen sollten. Damit hört die Einigkeit aber auch fast schon auf. Nur eins steht noch fest: Ein ¿Allheilmittel¿, wie es auch in einer Fragestellung in der Einladung zur heutigen Tagung heißt, ist ein Parteienverbot auf keinen Fall. Ich kenne aber auch niemanden, der das behauptet. Sachsen-Anhalt war eines der ersten Länder, die den Anstoß für eine neue Verbots­diskussion gaben. Damit wollten wir auch auf die Ent­wicklungen in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern reagieren, wo die NPD mühelos in die Landtage einzog. Wir wollen nicht warten, bis die NPD flächendeckend zu einer parlamentarischen Kraft wird. Und wir wollen uns auch nicht darauf verlassen, dass sie sich mit Füh­rungsstreit und Finanzquerelen selbst ins Aus manövriert. Der legale Status der NPD als Partei bietet den Rechtsextremen nicht nur die Möglichkeit, ihr Gedankengut ungehindert zu verbreiten, er verschafft ihnen durch Wahlkampfkosten­erstattung und die Finanzierung ihrer Fraktionen auch noch staatliche Fördermittel, die ausgezahlt werden müssen, auch wenn ihr Missbrauch absehbar ist. Ohne ein Verbot kann diese staatliche Alimentierung der Feinde der Demokratie nicht ausgehebelt werden. Ich finde es fatal, dass in der Diskussion häufig ein Parteienverbot einerseits und die politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus andererseits gegeneinander gestellt werden. Beides gehört zusammen. Die Politik macht sich unglaubwürdig, wenn wir bei Besuchen im Politikunterricht von den Schülerinnen und Schülern couragiertes Einschreiten gegen Rassismus, Anti­semitismus und Demokratie­feindlichkeit fordern ¿ und wenn dieselben Schülerinnen und Schüler am Samstag drauf erleben müssen, wie unsere Polizei eine Demonstra­tion von Leuten absichern muss, die genau das predigen. Auch der Polizei ist diese Situation immer weniger zuzumuten. Niemand glaubt, dass ein Verbot rechtsextre­mes Gedankengut beseitigt. Aber es verschafft uns unvergleichlich bessere Möglich­keiten, es zu ächten und seine Verbreitung zu behindern. Die Materialsammlung, die wir zur Prüfung eines neuen Verbotsantrags zusammen getragen haben, belegt eindrucksvoll die aktiv kämpferische, aggressive Haltung der NPD gegen die freiheitlich-demokratische Grund­ordnung. Ich denke, dass dieses Material ebenso wie die Information der anderen 15 Länder nicht umsonst gesam­melt wurde. Ich fürchte, dass die Aktivitäten von rechts neue Anlässe schaffen, die eine erneute Verbotsdiskussion auslösen werden. Für diese Diskussion sind wir gut gerüstet. ¿Wir deutschen Sozialdemokraten¿, sagte Otto Wels in seiner unvergessenen Reichstagsrede, mit der er die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die SPD-Fraktion begründete,  ¿bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.¿ Es hat auch keine Lichtenburg und kein Buchenwald geschafft. Auch das wird die Gedenkstätte zeigen, die hier jetzt endlich entsteht. Ich bitte Sie alle, für Besuche in der Lichtenburg zu werben, damit diese Botschaft bei vielen Menschen ankommt.¿ Impressum: Verantwortlich: Martin Krems Pressestelle Halberstädter Straße 2 / Am Platz des 17. 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