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Magdeburg, den 12.11.2009

Regierungserklärung von Ministerpräsident Böhmer anlässlich des 20-jährigen Mauerfall-Jubiläums: "Zur Freiheit befreit"

Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 616/09 Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 616/09 Magdeburg, den 12. November 2009 Regierungserklärung von Ministerpräsident Böhmer anlässlich des 20-jährigen Mauerfall-Jubiläums: "Zur Freiheit befreit" Am 9. November war es genau 20 Jahre her, dass sich die Welt verändert hat. Alle, die diesen Tag miterlebt haben, ahnten dies ohne die Folgen auch nur abschätzen zu können. Jetzt ¿ mit 20 Jahren Abstand und mit der Kenntnis der weiteren Entwicklung wissen wir, dass es ein historisches Ereignis war, das die Welt nachhaltig verändert hat. Deshalb ist es für uns und mehr noch für zukünftige Generationen wichtig, uns daran zu erinnern. Dabei soll es heute bewusst nicht um die Ergebnisse von 19 Jahren Vereinigungspolitik in Deutschland gehen, sondern um die Probleme eines selbstbestimmten Lebens in der vor zwanzig Jahren gewonnenen Freiheit. Der 9. November 1989 ist zum Synonym geworden für den Triumph der Freiheit über die Diktatur eines vormundschaftlichen Staates. Er hat uns die Möglichkeit eröffnet, in freier Selbstbestimmung die Teilung Deutschlands zu überwinden. Dadurch konnte auch die Teilung Europas überwunden werden. Deshalb wurde an dieses Ereignis nicht nur in Deutschland feierlich erinnert, sondern in mehreren europäischen Staaten. In vielen Reden und im Beisein vieler internationaler Gäste wurde die geschichtsverändernde historische Bedeutung dieses Tages gewürdigt. Das alles ist bereits gesagt worden. Deshalb will ich heute an jene Probleme erinnern, die die unverhofft gewonnene Freiheit für uns, die betroffene Generation in diesem Teil Deutschlands, an Chancen und Risiken bedeuten. Gemessen an den Folgen war das erinnerungswürdige Ereignis fast banal. Der diensthabende Oberstleutnant aus der Passkontrollstelle Bornholmer Straße in Berlin konnte sich der anstürmenden Menge von Menschen nicht mehr erwehren, die in Radio und Fernsehen gehört hatten, dass ab sofort freie Reisemöglichkeiten gewährt werden sollen. Übergeordnete Vorgesetzte waren nicht mehr erreichbar. Gegen 23.30 Uhr gab er mit den Worten: ¿Wir fluten jetzt¿ den Befehl, den Schlagbaum zu öffnen. Die Einzelheiten dieses Abends sind ausführlich dokumentiert und mehrfach veröffentlicht. Damit ist eine Grenze geöffnet worden, deren Sicherungsanlagen mehr als 1,8 Mrd. Mark der DDR gekostet hatten und deren Sicherung mehr als 28 Jahre lang täglich 1,47 Mio. Mark der DDR gekostet hat. Sie wurde uns als ¿antifaschistischer Schutzwall¿ erläutert und war doch nichts anderes als eine Mauer der Mächtigen gegen das Weglaufen der in einer Diktatur Ohnmächtigen. Die Öffnung dieser Mauer, die nicht nur Deutschland, die Europa geteilt hat, war das Ergebnis einer europäischen Freiheitsbewegung. Die Volksaufstände in den 50-er Jahren in der DDR, in Ungarn und in Polen konnten noch mit militärischer Gewalt unterdrückt werden. Auch der Versuch, in den 60-er Jahren in der Tschechoslowakei einen demokratischen Sozialismus zu etablieren, wurde mit sowjetischen Panzern beendet. Die Freiheitsbewegung der Charta 77 in Tschechien und die freie Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc im Sommer 1980 in Polen wurden mit politischen Mitteln jahrelang unterdrückt, konnten aber nicht mehr liquidiert werden. Als dann ab Anfang 1986 der Prozess der Umgestaltung Perestroika in der Sowjetunion zu mehr Offenheit Glasnost führte, gewann die Freiheitsbewegung eine eigene Dynamik. In Polen musste die Regierung sich zu Gesprächen mit der Gewerkschaft am Runden Tisch bereit erklären und die Ungarn durchtrennten vor laufenden Kameras im Sommer 1989 den Stacheldraht der Grenzanlagen, die Europa trennten. Tausende DDR-Bürger verließen ab Sommer 1989 ihre Heimat und die, die blieben, forderten mehr eigene Entscheidungsfreiheit nach dem Motto: Wenn wir gehen dürften, würden wir bleiben wollen. Unter dem Eindruck steigender Flüchtlingszahlen und zunehmender Massenproteste versuchten die Regierenden sich neu aufzustellen und versprachen eine Wende in ihrer Politik. Für die Absichtserklärung, ein freieres Reisegesetz zu machen, sollte die Bundesregierung schon vorher einen Kredit von 12 ¿ 13 Mrd. D-Mark zusagen. Die öffentliche Mitteilung über dieses Gesetz führte dann dazu, dass es eines solchen Gesetzes nicht mehr bedurfte. Der in 28 Jahren aufgestaute Druck zerbrach die Mauer, die Deutschland und Europa trennte, in einer einzigen Nacht und auf friedliche Weise. Soviel Freude wie in dieser Nacht war niemals vorher und wird es auch kaum wieder geben. Europa hatte sich in dieser Nacht verändert ¿ wir wussten nur noch nicht wie. Bei dem millionenfachen Ruf nach Freiheit ging es nicht nur um Reisefreiheit. Es ging um freie Wahlen, um Meinungs- und Pressefreiheit, um Gedanken- und um Redefreiheit. Wir wussten, dass der uns erläuterte Freiheitsbegriff nur die Erklärung für deren Unterdrückung war. Freiheit wurde uns erklärt als ¿die Einsicht in die Notwendigkeiten, die sich aus den objektiven Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung der Gesellschaft ergeben.¿ Über diese Notwendigkeiten entschied das Politbüro. Kaum jemand glaubte das. Wenn auf einer Bühne ¿Nabucco¿ oder ¿Don Carlos¿ aufgeführt wurde, gab es an bestimmten Stellen Zwischenapplaus, über den zu berichten sich keine Zeitung wagte. Einen freien, unvoreingenommenen Gedankenaustausch gab es letztlich nur noch in Einrichtungen der Kirche, in privaten Zirkeln und in Büchern, die außerhalb der DDR gedruckt wurden. Den Ruf nach Freiheit teilten alle. Wir glaubten, Freiheit aus der Literatur und dem Fernsehen zu kennen. Wir hatten keine Erfahrungen mit Freiheit und keine Gelegenheit, ein Leben in Freiheit zu erlernen. Von einer Kultur der Freiheit wussten wir nur wenig. Irgendwie fühlten wir uns alle für ein Leben in Freiheit gerüstet. Jetzt wissen wir, dass dies ein Irrtum war, der auch zu Enttäuschungen führen musste. Freie Diskussionen über gesellschaftspolitische Probleme gab es nur unter dem schützenden Dach der Kirchen. Das ist zu Recht häufig gewürdigt worden. Aus diesen Kreisen kamen auch die ersten Teilnehmer, die am Runden Tisch oder in später gewählten Vertretungen Verantwortung übernommen haben. Aber es gab so gut wie keine freien Berufe mehr und kaum noch wirtschaftlich selbständige Betriebe. Es gab keine Kultur mehr eines freien Unternehmertums. Als es wieder möglich wurde, haben sich einige ein Herz gefasst, sich selbständig gemacht und als MBO-Privatisierung Betriebe übernommen. Dabei gab und gibt es bewundernswerte Erfolge, aber auch Fehlschläge, von denen niemand mehr spricht. Wir wissen auch, dass die Nachfrage nach dem Schutz des Beamtenrechts viel größer war als das Bedürfnis nach wirtschaftlicher Selbständigkeit. Wir forderten Pressefreiheit. Als wir sie mit einer ungeahnten Meinungsvielfalt hatten, waren nicht wenige unter uns verunsichert. Wer früher nur skeptisch war, wusste nun, dass er gar nichts mehr glauben konnte. Aus dieser oft widersprüchlichen Vielfalt sich eine eigene Meinung zu bilden, war für viele unter uns schwieriger geworden. Um die Reisefreiheit erleben zu können, bedurfte es einer frei konvertierbaren Währung. Die aber setzte einen freien Warenaustausch und freie, wettbewerbstüchtige Wirtschaftsstrukturen voraus. Darauf waren wir in keiner Weise vorbereitet. Wir haben erlebt, welchen mühsamen Transformationsprozess der Wirtschaft wir durchleben mussten. Die Runden Tische haben viele als Höhepunkte der Demokratie erlebt. Es gab einen Grundkonsens gegen die Regierung. Als es darum ging, neue Strukturen aufzubauen, mussten die unterschiedlichen Meinungen und Zielvorstellungen in politischen Parteien gebündelt werden. Damit begann die Mühsal der Demokratie. Bei den ersten freien Wahlen lag die Beteiligung weit über 90 %. Dass die errungene Freiheit, bei Wahlen auswählen zu können, während der letzten Jahre nur noch so gering genutzt wird, ist für mich ein Zeichen großer Enttäuschung bei den Wählern. Es muss sicher eine Aufgabe aller Parteien sein, dafür zu werben, dass dieses Recht in einer freien Gesellschaft auch genutzt wird. Gegenwärtig ist unsere Demokratie weniger bedroht von extremistischen Wirrköpfen als von der Lethargie und Passivität enttäuschter Demokraten. Es ist unsere Aufgabe, beides ernst zu nehmen. Viele haben früher das vormundschaftliche Selbstverständnis einer alles reglementierenden Regierung verurteilt. Nicht wenige haben sich danach verlassen gefühlt, als sie sich selbst um jene Dinge kümmern mussten, die früher der ungeliebte Staat entschieden hatte. Viele haben z. B. die Absolventenlenkungsverordnung als Bevormundung empfunden. Ich habe von keinem Jugendlichen gehört, dass er sie wieder haben möchte. Aber Großeltern beschweren sich gelegentlich noch heute darüber, dass wir als Staat die jungen Menschen so im Stich lassen würden. Ein Leben in Freiheit muss auch erlernt werden. Darüber nachzudenken, haben wir uns bisher kaum Zeit genommen. Wir wussten natürlich, dass es keine Freiheit völlig ohne Bindungen und Begrenzungen geben kann. Freiheit kann niemals bedeuten, dass jeder tun kann was er will, sondern bestenfalls, dass er nicht tun muss, was er nicht will. Aber Freiheit bedeutet, immer selbst entscheiden zu können und zu müssen, was andere nicht mehr für mich entscheiden. 1941 veröffentlichte der Sozialpsychologe Erich Fromm ein Buch unter dem Titel: ¿Die Furcht vor der Freiheit¿. Nach seiner Analyse führt die Freiheit notwendigerweise zu einem Individualisierungsprozess mit der Auflockerung ursprünglicher Bindungen. Der Mensch wird unabhängiger und damit mehr auf sich selbst gestellt. Damit wächst auch die Angst, die eigenen Probleme nicht lösen zu können. Nicht jeder Mensch ist in gleicher Weise in der Lage, damit umgehen zu können. Wenn äußere Umstände daran hindern, die gewonnene Freiheit zu nutzen, sind Einsamkeit und Enttäuschung die logische Folge. Manche empfinden das als soziale Kälte. So berechtigt die Freude über die errungene Freiheit auch immer bleiben wird, so sehr müssen wir uns auch an den verantwortlichen Umgang mit ihr erinnern. Wir müssen uns auch deutlich machen, dass damit Risiken und unerwartete Ängste verbunden waren und sind. Nicht alle waren in gleicher Weise darauf vorbereitet, nicht alle waren den Risiken gewachsen und nicht alle konnten aus von ihnen nicht verschuldeten Gründen die neuen Chancen nutzen. Wir haben in den letzten zwanzig Jahren sehr viel getan, um Menschen zu helfen, ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu führen. Die Ansiedlung von Arbeitsplätzen und die Hilfe bei Arbeitslosigkeit waren in jeder der vergangenen Legislaturperioden die wichtigsten Aufgaben. Aber wir wissen auch, dass wir nicht alle erreicht haben und dass wir nicht allen helfen konnten. Gegenwärtig erleben wir bei Jugendlichen eine andere Form der Furcht vor der Freiheit. Aus vermutlich unbewusster Angst vor einem selbstbestimmten Leben suchen sie die Kameradschaft in streng hierarchisch organisierten Gruppen. Sie verzichten freiwillig auf die Freiräume eigener Individualität und suchen den Schutz fremdbestimmter Gemeinschaften. Für uns bedeutet das die Verpflichtung, uns nicht nur unserer errungenen Freiheit zu erfreuen, sondern auch, diese Freude zukünftigen Generationen weiter zu vermitteln, um auch den Risiken der Freiheit gewachsen zu sein, was bedeutet, mit ihr verantwortungsvoll umgehen zu können. Je mehr sich Menschen von einem Leben in Freiheit überfordert fühlen, umso mehr werden sie jenen vertrauen, die nicht mehr Freiheit, sondern mehr Betreuung versprechen. Grundlegende Ost-West-Unterschiede bei verschiedenen Befragungsergebnissen sind nur so zu erklären. In unvorstellbar kurzer Zeit haben wir unsere selbst errungene Freiheit genutzt, um die beiden Teile unseres Landes in freier Selbstbestimmung wieder zu vereinigen. Wie groß die Vorbehalte einzelner unserer Nachbarländer gegen ein wiedervereinigtes Deutschland damals waren, haben wir erst in den letzten Jahren erfahren. Jetzt erst recht haben wir viele gute Gründe, denen dankbar zu sein, die dies damals in politischer Verantwortung erreicht und möglich gemacht haben. Auch wir verdanken ihnen, dass wir heute und hier für unser Land Verantwortung tragen dürfen. Die erste Aufgabe war die Anpassung aller Rechtsstrukturen an das Grundgesetz, dessen Freiheitsschutz wir gesucht hatten. Welche Konsequenzen das haben musste, das konnten wir damals nur erahnen. Im Rückblick nach zwanzig Jahren werden wir zugeben müssen, dass wir mehr hätten wissen können, ohne dass die Schwierigkeiten vermeidbar gewesen wären. Anfang des Jahres 1990 erschien als Lizenzausgabe für die damals noch bestehende DDR ein Buch von Klaus von Dohnanyi mit dem Titel: ¿Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre¿. Darin wird deutlich erklärt, dass es keine halbe Freiheit geben kann. Auch wir würden nicht  ¿beides gleichzeitig haben können, die Freiheit einer demokratischen Gesellschaft und die Sicherheit und den ruhigen Pulsschlag eines Verteilungsstaates.¿ Wer Freiheit will, muss auch offen sein für Wettbewerb. In einem Wettbewerb gibt es nicht immer nur Gewinner. Es wird auch Verlierer geben. Er schreibt weiter: ¿Die Freiheit hat eben auch ihren Preis, und er wird manchmal schmerzen.¿ Auch wenn wir alles vorhergesehen hätten, wir hätten das meiste nicht anders machen können. Es gibt keine prinzipielle Alternative zur offenen Gesellschaft ¿ außer der geschlossenen. Die kannten wir ¿ und die wollten wir nicht mehr. Wir wollten in Freiheit leben und wir waren bereit, uns den Konsequenzen eines Lebens in Freiheit zu stellen. Nur waren wir nicht ausreichend darauf vorbereitet. Was es bedeutet, eine auf Volkseigentum basierende, durch nicht konvertierbare Währung und eine kaum passierbare Mauer abgeschottete Wirtschaftsregion in eine weltoffene, freie Wettbewerbswirtschaft mit einem auch ohne uns gesättigten Markt zu überführen, das haben wir in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt. Die einzige Lehre daraus muss heißen: nie wieder abschotten und einmauern, sondern weltoffen bleiben und dieses Leben mit gestalten. Wir müssen nicht nur lernen, mit den damit verbundenen Risiken zu leben, wir müssen auch nach Wegen suchen, diese zu beherrschen. Das gilt für das individuelle Zusammenleben ebenso wie für die internationale Zusammenarbeit der Staaten in einer globalisierten Welt. ¿Die Freiheit hat nicht nur schöne Kinder¿ hat uns Klaus v. Dohnanyi vor fast zwanzig Jahren aufgeschrieben, ¿aber in der Unfreiheit ist alles hässlich.¿ Der Ihnen allen bekannte Joachim Gauck hat in diesem Jahr seine ¿Erinnerungen¿ veröffentlicht. Darin formuliert er, was wir inzwischen alle empfunden haben: ¿Die Freiheit als Sehnsucht hatte eine verlockende Kraft, sie war ungeschmälert schön. Die Freiheit als Wirklichkeit ist nicht nur Glück, sondern auch Beschwernis.¿ Das bedeutet für uns, die Freiheit mit ihren Chancen und Risiken anzunehmen und sie zu gestalten. Die Schwierigkeiten dabei kennen wir alle. Nicht immer fällt es uns leicht, jenes Maß an Freiheit, das wir für uns beanspruchen, auch anderen zu gewähren. Die Kompetenzverteilung föderaler Staatsstrukturen und die Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips unseren Kommunen und freien Trägern gegenüber sind der Raum, in dem wir Freiheit gestalten und gewähren können. Das Bestreben der Landtage nach mehr eigener Entscheidungskompetenz während der letzten Föderalismuskommission ist Ihnen bekannt. Die Sorge vor zu viel eigener Entscheidungskompetenz der Kreistage bei der Mittelverwendung kennen Sie ebenfalls. Als der Dramatiker Peter Hacks 1962 in Berlin sein Stück ¿Die Sorgen und die Macht¿ inszenierte, wurde er heftig kritisiert. Mit künstlerischen Mitteln wollte er deutlich machen, dass man in Regierungsverantwortung auch nicht aus fürsorglichen Gründen seinen Bürgern die individuellen Freiheiten zu sehr beschneiden dürfe. Auch das war damals nicht neu. ¿Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen¿ ¿ mit diesem Satz beginnt die von Freiherrn v. Stein im November 1808 verfasste preußische Städteordnung. Er ist mit Sicherheit auch heute noch richtig. Damit soll deutlich werden, wie in Verantwortung gelebte Freiheit gerade für diejenigen ein immer neuer Balanceakt ist, die die Macht haben, Freiheit zu gewähren oder zu begrenzen. Wer, wie wir alle hier, die Aufgabe hat, Ordnungen zu setzen, setzt der Freiheit anderer Grenzen und gibt ihr einen Rahmen. Das bedeutet eine besondere Verantwortung für die Freiheit derer, die uns gewählt haben. Schon 1959 hat der Philosoph Ernst Bloch in seinem ¿Abriss der Sozialutopien¿ das schwierige Abwägen von Freiheit und Ordnung setzen beschrieben. Erst gegen Ende der DDR durfte dies gedruckt werden. Auch wenn wir nicht immer darüber sprechen, ist dies eine immer wieder neu auszubalancierende Aufgabe. Wer die Unfreiheit selbst erlebt hat, wird die Freiheit für immer zu schätzen wissen. Für viele wird deshalb der 9. November 1989 für immer ein Tag der Freude bleiben. Wer keine Chancen sah, die Freiheit leben zu können, wird das anders sehen. Wer sein eigenes Lebensschicksal nicht in den Jubelbildern wiederfindet, wird sich auch nicht freuen können. Die demokratischen Freiheiten werden in der Realität von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen oft nicht als Vorteil empfunden. Schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mahnte der Philosoph Adorno: ¿Wer Freiheit will, muss vom Problem der Freiheit Rechenschaft geben.¿ Für uns, die wir ein Leben in Freiheit wollen, muss es also Aufgabe sein, uns selbst darüber Rechenschaft zu geben wie sehr es uns gelungen ist, zu gestalten, damit die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ihr Leben in Freiheit leben können. Juristisch mag das kein Problem sein. Um sein Leben in Freiheit gestalten zu können, ist mehr nötig, nämlich auch Teilhabe. Jeder von uns weiß, dass wir dieses Ziel noch nicht für alle erreicht haben. Um uns über die Situation in unserem Land einen Überblick zu verschaffen, haben wir auch in diesem Jahr wieder einen Sachsen-Anhalt-Monitor in Auftrag gegeben. Die veröffentlichten Ergebnisse sind bekannt. Auf die Frage, was wäre Ihnen wichtiger, Freiheit oder Gleichheit, haben sich 2009 bei uns 54 % für die Freiheit und 40 % für die Gleichheit entschieden. Die Werte von 2007 waren ähnlich. Diese Frage gehört trotz methodischer Vorbehalte zu jenen, die in den unterschiedlichen Regionen noch sehr unterschiedlich beantwortet werden. Die persönliche Einstellung zum gefühlten Wert der Freiheit ist nicht nur eine Frage der Lebensverhältnisse, sondern auch Ausdruck der Würde und der Selbstachtung jedes einzelnen Menschen. Freiheit gegen soziale Gleichheit abzuwägen, ist nicht unproblematisch. Wer die Freiheit aufgibt, um soziale Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren. Wer das nicht selbst erlebt hat, wird daran immer wieder zweifeln, denn wer die Freiheit mehr schätzt, muss auch bereit sein, mehr Risiken in Kauf zu nehmen. Die Aufgabe, wieder ein auf Selbständigkeit stolzes Unternehmertum aufzubauen, ist noch lange nicht abgeschlossen. Sie muss schon in der Schule beginnen und braucht eine eigene Kultur der Freiheit. Da nur so Arbeitsplätze für andere entstehen, ist die Entwicklung unternehmerischen Denkens auch eine wichtige Voraussetzung stabiler Sozialstrukturen. Deshalb muss auch die Erinnerung an den 9. November 1989 mehr sein als ein Erinnern an einen Tag selbst erlebter Freude. Wenn er für zukünftige Generationen mehr sein soll als ein Tag aus dem Geschichtsbuch, müssen wir ihnen den Wert der Freiheit weiter sagen und eine Kultur gelebter Freiheit weitergeben. Dazu gehört, dass jede Generation aufs Neue zur Freiheit befähigt und zum verantwortlichen Umgang damit geprägt wird, denn ¿ auch das wissen wir alle ¿ der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Für uns, die wir uns zusammen mit unseren östlichen Nachbarn aus vormundschaftlichen Sozialstrukturen zur Freiheit selbst befreit haben, bedeutet das viel. Wir müssen deutlich machen, dass Freiheit nicht nur ein Privileg ist, das Chancen bedeutet, sondern Verpflichtung und Aufgabe. Nur eine Gesellschaft mit einem breiten Wertekonsens kann sich Freiheit leisten. Je mehr wir uns gegenseitig misstrauen, umso mehr müssen wir das Zusammenleben durch Ordnungen regeln. Je mehr wir unserer eigenen Leistungsfähigkeit vertrauen, desto weniger wollen wir von den Leistungen anderer durch Umverteilung partizipieren. Die Normvorstellungen von individueller Autonomie einerseits und Sozialpflichtigkeit andererseits sind in den einzelnen Kulturen unterschiedlich. Auch wir müssen immer wieder aufs Neue diese Verhältnisse für unsere Kultur der Freiheit ausbalancieren. Ebenso wie die Demokratie ist die errungene Freiheit kein unveränderlicher Zustand, sondern wohl eher eine permanente Aufgabe. Beides sind keine Naturgeschenke, sondern Chancen, die wir immer wieder erobern müssen. Auch das gehört zum Erinnern. In der ältesten demokratischen Staatsform im alten Griechenland galt der Satz: ¿Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit.¿ Wir wollen uns über dieses Glück nicht nur freuen, wir wollen es erhalten und zukünftigen Generationen weitergeben. Impressum: Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Pressestelle Hegelstraße 42 39104 Magdeburg Tel: (0391) 567-6666 Fax: (0391) 567-6667 Mail: staatskanzlei@stk.sachsen-anhalt.de

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