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Magdeburg, den 28.02.2003

Rede von Bundesratspräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer auf dem 4. Treffen der Vereinigung der Senate Europas am 28. Februar 2003 in Madrid

Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 105/03 Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 105/03 Magdeburg, den 28. Februar 2003 Rede von Bundesratspräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer auf dem 4. Treffen der Vereinigung der Senate Europas am 28. Februar 2003 in Madrid Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich vorab Ihnen, sehr geehrter Herr Präsident, ganz herzlich für Ihre freundliche Einladung nach Madrid danken und Ihnen meine Anerkennung für die hervorragende Organisation dieser 4. Tagung unserer Vereinigung aussprechen. Es ist eine besondere Ehre für mich, als Präsident des Bundesrates zum ersten Mal mit Ihnen in diesem Kreis zu einem Gedankenaustausch zusammen zu kommen. Während meiner 1-jährigen Amtszeit werden mir die Pflege und der Ausbau der internationalen Beziehungen des Bundesrates und die Übernahme von Verantwortung auch auf europäischer Ebene besonders am Herzen liegen. Ein eindrucksvolles Erlebnis, das mich in dieser Aufgabe bestärkt hat, waren die gemeinsamen Feierlichkeiten des französischen Senats und des Bundesrates am 22. Januar 2003 in Paris anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Elysée-Vertrages zwischen der Französischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Herr Kollege Poncelet, bei dieser Gelegenheit haben unsere beiden Kammern eindrucksvoll demonstriert, dass sie fest entschlossen sind, zusammen zu arbeiten. Eine solche Zusammenarbeit wünsche ich mir zwischen allen Mitgliedern unserer Vereinigung. Nun zum Thema unserer heutigen Tagung: "Die Kontrolle der Regierungen durch die Zweiten Kammern". Aufgrund des föderativen Staatsaufbaus der Bundesrepublik Deutschland haben die deutschen Länder eine Vielzahl von eigenen Aufgaben und Kompetenzen. Zu der uneingeschränkten Ausnutzung dieser verfassungsmäßig eingeräumten Rechte gehört auch eine Kontrolle der Bundesregierung, deren Handeln vor allem bei der Rechtsetzung vitale Interessen der Länder berühren kann. Nach dem deutschen Grundgesetz wählt allein der Bundestag den Bundeskanzler, der für seine Amtsführung und die seiner Regierung das Vertrauen des Bundestages benötigt. Der Bundesrat als Interessenvertreter der Länder hat keinen direkten Einfluss auf die Bildung oder Abberufung der Regierung. Dennoch ist der Bundesrat neben dem Bundestag ein Kontrollorgan der Bundesregierung. Diese Kontrolle vollzieht sich vor allem bei der Mitwirkung an der Gesetzgebung. In der Bundesrepublik Deutschland gehen die meisten Gesetze auf Gesetzentwürfe der Bundesregierung zurück. Zu diesen Regierungsentwürfen hat der Bundesrat das "erste Wort" in der parlamentarischen Behandlung, weil die Bundesregierung ihre Gesetzentwürfe zunächst dem Bundesrat zuzuleiten hat. Dieser ist dann berechtigt, zu den Vorschlägen Stellung zu nehmen. In der Prüfung und Erörterung der Regierungsentwürfe liegt ein Schwerpunkt der Bundesratsarbeit überhaupt. Die Kontrollfunktion des Bundesrates im föderativen Staatsaufbau wird an dieser Stelle besonders deutlich. Die Stellungnahme des Bundesrates bindet die Bundesregierung in diesem Stadium des Gesetzgebungsverfahrens noch nicht. Aber dieses "erste Wort" ist ein wichtiges Signal dafür, wie im "zweiten Durchgang" das "letzte Wort" des Bundesrates ausfallen wird. Deshalb kann die Stellungnahme des Bundesrates nicht ignoriert werden. Die Bundesregierung legt anschließend ihre Ansicht zur Haltung des Bundesrates schriftlich in einer "Gegenäußerung" dar. Gesetzentwurf, Stellungnahme des Bundesrates und Gegenäußerung werden dann beim Bundestag eingebracht. Der vom Bundestag nach eingehenden Beratungen gefasste Gesetzesbeschluss wird danach dem Bundesrat erneut in einem "zweiten Durchgang" zugeleitet. Dabei wird insbesondere geprüft, ob die Stellungnahme des "ersten Durchgangs" berücksichtigt wurde. Gesetze, durch die die Interessen der Länder in besonderer Weise berührt werden, können nur in Kraft treten, wenn ihnen der Bundesrat ausdrücklich zustimmt. Dies gilt insbesondere für alle Gesetze, die die Verfassung ändern, das Finanzaufkommen der Länder berühren oder in die Verwaltungshoheit der Länder eingreifen. In der Praxis sind mehr als die Hälfte der Bundesgesetze Zustimmungsgesetze. Bei jedem zweiten Gesetz ist die Regierung also auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen und muss bei ihren Entscheidungen auf diesen Rücksicht nehmen. Das zeigt die enorme Bedeutung der Kontrollmöglichkeit des Bundesrates. Wenn der Bundesrat seine Zustimmung zu einem Gesetz nicht erteilen will, kann der Vermittlungsausschuss, ein zu gleichen Teilen aus Vertretern des Bundestages und des Bundesrates zusammengesetztes Gremium, eingeschaltet werden, in dem Möglichkeiten für eine Einigung ausgelotet und Kompromisse gefunden werden können. Erst wenn diese Bemühungen scheitern, bedeutet die erneute Verweigerung der Zustimmung das endgültige Scheitern des Gesetzes. Weiterhin ist der Bundesrat auch am Zustandekommen der nicht zustimmungsbedürftigen Gesetze beteiligt. Sie werden als Einspruchsgesetze bezeichnet. Bei diesen kann er in der Regel nur als nachdrücklicher Mahner gegenüber dem Bundestag und der Bundesregierung auftreten. Ein - nach erfolgloser Anrufung des Vermittlungsausschusses - vom Bundesrat mit absoluter Mehrheit beschlossener Einspruch kann mit der absoluten Mehrheit der Stimmen des Bundestages zurückgewiesen werden. Hat der Bundesrat seinen Einspruch mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen, so muss dieser im Bundestag ebenfalls mit einer Mehrheit von zwei Dritteln zurückgewiesen werden. Findet sich jedoch im Bundestag die zur Zurückweisung des Einspruchs erforderliche Mehrheit nicht, dann ist das Gesetz ebenso gescheitert, wie wenn der Bundesrat einem Zustimmungsgesetz die Zustimmung endgültig versagt. Eine weitere wichtige Rolle spielt der Bundesrat bei der Verab­schiedung von Rechtsverordnungen, d. h. allgemein verbindlichen Vorschriften zur Durchführung der Gesetze. Zu den meisten Rechtsverordnungen der Bundesregierung und einzelner Bundesminister ist die Zustimmung des Bundesrates vorgeschrieben. Das Zustimmungsrecht bedeutet, dass der Bundesrat den Inhalt der Rechtsverordnungen gleichberechtigt mitbestimmen kann. Darüber hinaus ist die Bundesregierung nach Artikel 53 unseres Grundgesetzes verpflichtet, den Bundesrat "über die Führung der Geschäfte auf dem Laufenden zu halten". Diese Informationspflicht bezieht sich auf alle Regierungsgeschäfte und betrifft damit nicht nur die Vorhaben auf dem Gebiet der Gesetzgebung und Verwaltung, sondern auch die Unterrichtung über die allgemeine politische Lage, die Außen- und Verteidigungspolitik. Außerdem hat der Bundesrat das Recht, jedes Mitglied der Bundesregierung in seine Plenar- und Ausschusssitzungen zu "zitieren" und Fragen zu stellen. Von diesem Recht macht der Bundesrat, vor allem in Ausschusssitzungen, extensiv Gebrauch. Vertreter der Bundesregierung stehen den Ländern dort bei allen Tagesordnungspunkten, bei denen dies gewünscht wird, Rede und Antwort. Der Bundesrat verfügt damit über zahlreiche Möglichkeiten, auf die Bundesregierung kontrollierend und im Ergebnis sogar mitbestimmend Einfluss zu nehmen. Dies gilt auch für die Europapolitik. Gemäß unserer Tagesordnung soll dieser Punkt erst heute Nachmittag erörtert werden. Leider wird es mir aus terminlichen Gründen nicht möglich sein, an diesen Beratungen teilzunehmen. Erlauben Sie mir daher bereits jetzt kurz einige Ausführungen aus Sicht des deutschen Bundesrates: Nach Artikel 23 Absatz 2 unseres Grundgesetzes wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und auch den Bundesrat deshalb umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über alle Vorhaben der Europäischen Union zu unterrichten. Zu den so mitgeteilten Entwürfen für Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Union gibt der Bundesrat Stellungnahmen ab. Soweit die europarechtlichen Regelungen Materien betreffen, die innerstaatlich in die Zuständigkeit des Bundes fallen, hat die Bundesregierung die Stellungnahmen des Bundesrates bei ihrer Entscheidung in Brüssel schlicht "zu berücksichtigen" - d. h., sie ist nicht daran gebunden. Wenn allerdings im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist die Auffassung des Bundesrates insoweit "maßgeblich zu berücksichtigen", d.h. der Bundesrat hat hier grundsätzlich das Letztentscheidungsrecht über die Festlegung der deutschen Haltung im Ministerrat. Betreffen EU-Regelungen im Schwerpunkt ausschließlich die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, so kann sogar ein vom Bundesrat benannter Landesminister am Ratstisch in Brüssel Platz nehmen, um die deutsche Position bei den Verhandlungen mit den anderen 14 Mitgliedstaaten zu vertreten. Zusammenfassend kann ich daher Folgendes feststellen: Die Bundesregierung ist in wesentlichen Teilen ihrer Aktivitäten der intensiven Kontrolle und der rechtlichen Mitentscheidung des Bundesrates unterworfen. Man kann sogar sagen, dass der Bundesrat für die Bundesregierung ein schwierigerer Partner als der Deutsche Bundestag ist, da sie mit der Mehrheit des Bundestages in parteipolitischer Identität steht. Im Bundesrat können durchaus andere Parteien und Koalitionen eine Mehrheit bilden - dies ist im übrigen gerade der Fall - und dadurch eine verstärkte Kontrolle der Regierung ausüben. Der Bundesrat als Zweite Kammer kann daher dafür sorgen, dass die Regierung ihr Programm nicht einseitig durchsetzen kann, sondern dem Zwang zur Einigung und zum Kompromiss mit der jeweiligen Bundesratsmehrheit unterworfen ist. Als Inhaber eines solch weitreichenden Kontrollinstruments trägt der Bundesrat natürlich eine große Verantwortung. Die Tatsache, dass in den vergangenen beiden Legislaturperioden von weit über 800 Gesetzesvorlagen nur etwas mehr als 5 Prozent am Widerstand des Bundesrates gescheitert sind, zeigt, dass der Bundesrat sich dessen stets bewusst war. Gleichwohl ist in der Bundesrepublik Deutschland wiederholt Kritik an dieser einflussreichen Position des Bundesrates geäußert worden. Dabei wird insbesondere vorgebracht, dass die Zahl der Zustimmungsgesetze unangemessen hoch sei. Es werden daher Möglichkeiten diskutiert, die Zahl der Zustimmungsgesetze zu verringern und damit die Macht und die Einflussmöglichkeiten des Bundesrates zu beschneiden. Mir ist bewusst, dass nicht alle Mitglieder unserer Vereinigung über derart weitreichende Rechte wie der Bundesrat verfügen. Oft sind die Mitwirkungsmöglichkeiten nur sehr eingeschränkt. Jedoch sollten wir Zweiten Kammern die uns durch die jeweilige Verfassung eingeräumten - wenn auch unterschiedlich ausgestalteten - Mitwirkungsrechte konsequent nutzen. Dabei müssen wir auch Meinungsverschiedenheiten und Konflikte mit den Regierungen in Kauf nehmen. Die Austragung von Konflikten gehört zur Demokratie. Das Ziel aber müssen gemeinsam getragene Lösungen sein. Weder eine uneingeschränkte Unterstützung noch eine Fundamentalopposition gegen die Politik unserer Regierungen ist unsere verfassungsgemäße Aufgabe. Zum Abschluss meiner Betrachtungen möchte ich noch einmal kurz den Blick auf die Diskussion auf Europäischer Ebene lenken: Derzeit werden im Konvent und in der COSAC Vorschläge zur Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente diskutiert. Einigkeit besteht dort, dass dies in erster Linie durch eine verstärkte innerstaatliche Kontrolle der nationalen Regierungen erfolgen muss. Ich denke, damit sind wir auf dem richtigen Weg. Nur durch eine effektive - auf die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen nationalen Rechtsordnung abgestimmte - Kontrolle der Regierungen wird es uns gelingen, die Rolle der nationalen Parlamente und dabei insbesondere die der Zweiten Kammern in Europa zu stärken. Voraussetzung ist allerdings, dass wir Zweiten Kammern die uns  - wenn auch in unterschiedlichem Maße zugeteilten - Kontrollbefugnisse über unsere Regierungen konsequent ausnutzen. Auf diese Weise werden wir einen Beitrag zur Verbesserung der demokratischen Legitimation, der Glaubwürdigkeit und letztlich auch der Akzeptanz Europas bei unseren Bürgern leisten. Abschließend möchte ich unser heutiges Treffen zum Anlass nehmen, Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, für das Jahr 2005 - im Anschluss an die schon jetzt ausgesprochenen Einladungen unserer Mitglieder aus der Tschechischen Republik und Polen - zu einer Sitzung der Vereinigung der Senate Europas nach Berlin einzuladen. Zwar werde ich dann - aufgrund der jährlich wechselnden Bundesratspräsidentschaft - nicht mehr im Amt sein, jedoch wird es meiner Nachfolgerin bzw. meinem Nachfolger eine Ehre sein, Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dann in Berlin begrüßen zu können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. 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