Regierungserklärung von Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer zum Thema ?20 Jahre Deutsche Einheit?
Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 558/10 Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 558/10 Magdeburg, den 7. Oktober 2010 Regierungserklärung von Ministerpräsident Prof. Dr. Wolfgang Böhmer zum Thema ¿20 Jahre Deutsche Einheit¿ Es gilt das gesprochene Wort! 20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschland lebt bereits eine junge Generation, die die Teilung unseres Landes nicht erlebt hat. Und für die der 3. Oktober 1990 bereits ein Tag aus dem Geschichtsbuch ist. Uns, die wir Teilung und Mauerbau, Maueröffnung und Wiedervereinigung erlebt haben, uns müssen wir nicht daran erinnern. Die Freude, das Ende der Teilung noch miterlebt zu haben wird bleiben. Aber einerseits sind noch lange nicht alle Langzeitfolgen der Teilung und noch nicht alle Komplikationen der Wiedervereinigungsprozesse überwunden und andererseits wird es zukünftig immer wichtiger werden, an diese Periode unserer Geschichte zu erinnern. Selbst im Rückblick und mit 20 Jahren Abstand erscheint es immer noch wie ein Wunder, wie sich die Welt in diesen 329 Tagen zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 veränderte. Die Geschichte lief damals wie im Zeitraffer. War da eben noch die Mauer, die uns in der DDR wie für die Ewigkeit gemacht erschien, so war diese plötzlich nicht nur offen, sondern innerhalb kürzester Zeit folgten freie Wahlen, die Währungsunion und schließlich die deutsche Einheit. Doch ungeachtet der weltweiten Veränderungen, wurde in diesem knappen Jahr unter dem Druck der Bürger in der ehemaligen DDR viel und hart gearbeitet, um die deutsche Wiedervereinigung Wirklichkeit werden zu lassen. Das war die Leistung der letzten Volkskammer und der Diplomatie der Regierung der Bundesrepublik. An erster Stelle stand hier zunächst einmal Überzeugungsarbeit bei unseren Nachbarn und Verbündeten. Die Wiedervereinigung Deutschlands war schließlich mehr als eine bloße Zusammenführung der beiden deutschen Teilstaaten. Die Skepsis im Ausland war groß. Das geteilte Deutschland war vier Jahrzehnte ein stabilisierendes Element der internationalen Nachkriegsordnung. Dabei war nicht nur gegenüber der Sowjetunion Überzeugungsarbeit zu leisten, auch in Großbritannien und Frankreich sah man eine schnelle deutsche Wiedervereinigung durchaus kritisch. Nach mehrmonatigen Gesprächen wurde mit der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages am 12. September 1990 der Weg für die deutsche Wiedervereinigung frei. Auf der anderen Seite mussten auch in der DDR die Voraussetzungen für eine Wiedervereinigung geschaffen werden. Die im März 1990 erstmalig frei gewählte Volkskammer der DDR hatte ein riesiges Arbeitspensum. Die DDR, so wie wir sie erlebt hatten, war mit Westdeutschland beim besten Willen nicht vereinbar. Die letzte Volkskammer hat die DDR wiedervereinigungsfähig gemacht. Ich denke hier z. B. an die Verabschiedung des Verfassungsgrundsätzegesetzes und das Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR (Kommunalverfassung), beide nicht ohne Grund verabschiedet am 17. Juni 1990, oder aber an das Ländereinführungsgesetz vom 22. Juli. Es ist das historische Verdienst der frei gewählten Volkskammer in der DDR, die Voraussetzungen dazu und dann den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland beschlossen zu haben. Schon damals hat es Diskussionen gegeben und auch heute lässt sich vortrefflich darüber streiten, ob bei der Wiedervereinigung alles richtig gemacht wurde oder ob nicht besser ein anderer Weg hätte beschritten werden sollen. Ich halte solche Überlegungen für nutzlos. Man hätte damals vieles anders, aber nur weniges besser machen können. Die eigentliche Politik wurde damals von den Menschen selbst gemacht ¿ von den Menschen hier in Ostdeutschland. Es waren nicht nur die Demonstrationen auf der Straße, sondern es war die Abwanderung in den Westen, die einen Handlungsdruck erzeugt hat. Allein zwischen dem 9. November und dem Jahresende 1989 hatten 300.000 DDR-Bürger ihr Land verlassen. Im Jahr 1990 sind es fast 400.000 gewesen. Der Wiedervereinigungsdruck entstand aus der Bevölkerung heraus. Es war eine Abstimmung mit den Füßen. Beide Teile Deutschland waren daran interessiert, diese Form einer Völkerwanderung zu beenden. Auch über die Frage, ob die Vereinigung nicht lieber nach Artikel 146 statt Artikel 23 des Grundgesetzes hätte erfolgen sollen, wurde diskutiert. Das Grundgesetz hatte sich in mehr als vier Jahrzehnten Bundesrepublik hervorragend bewährt. Zudem muss man sich vorstellen: Da saßen auf der einen Seite 16 Millionen Ostdeutsche ¿ ein Teil davon schon auf den Koffern und die anderen waren sich untereinander nicht einig, was sie wollten, die DDR war immerhin gerade grandios gescheitert. Und auf der anderen Seite standen mindestens 60 Millionen Menschen, die zu Recht auf eine gelungene wirtschaftliche Entwicklung verweisen konnten. Diese sollten sich nun von uns sagen lassen, wie alles besser zu machen sei? Das war schon damals eine irreale Vorstellung. Der Weg über Artikel 23 mit allen damit verbundenen Problemen war letztlich der einzig vernünftig gangbare Weg gewesen. Wieder andere behaupten, die frühe Währungsunion und die Arbeit der Treuhandanstalt hätten die DDR-Wirtschaft kaputt gemacht. Das müsste jeder, der die DDR bewusst erlebt hat, eigentlich besser wissen. Schon Experten der Regierung Modrow hatten Anfang 1990 30% der Unternehmen der DDR als dringend sanierungsbedürftig, weitere 30% sogar als nicht sanierungsfähig eingestuft. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeit der Treuhandanstalt und ihrer Nachfolger einzuschätzen, auch wenn wir wissen, dass dabei auch Fehler begangen wurden und manch ein angeblicher Investor nur an eine Marktbereinigung zum eigenen Vorteil gedacht hat. So wäre die Rettung der Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt ohne die Arbeit von Treuhand und BVS wohl kaum gelungen. Dabei stand gerade die chemische Industrie der DDR, die zum größten Teil im Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt beheimatet war, in denkbar schlechtem Ruf. Sie produzierte auf oft veralteten Anlagen und ohne Rücksicht auf die Umwelt zu nehmen, Leuna und Bitterfeld/Wolfen waren dafür vor 20 Jahren zum Synonym geworden. Ende der achtziger Jahre war bereits jeder fünfte Beschäftigte der Chemischen Industrie der DDR mit Reparaturaufgaben betraut. 1989 wurde allein auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt ein Drittel mehr Schwefeldioxid und Staub emittiert als in der gesamten alten Bundesrepublik. Heute beträgt die Belastung noch 1% der Werte aus DDR-Zeiten und auch die Kohlendioxid-Emissionen wurden um 55% gesenkt. Natürlich war der Umbau der chemischen Industrie bei uns kein einfacher Prozess. Zunächst einmal gingen sehr viel mehr Arbeitsplätze verloren, als erhalten werden konnten oder neu entstanden. Und nicht jede Entscheidung konnte von den von ihr Betroffenen nachvollzogen werden, auch wenn sie letztlich notwendig war. Ich erinnere nur an die Worte des damaligen Wirtschaftsministers Klaus Schucht zu den Buna-Arbeitern hier auf dem Domplatz. Heute wird in Schkopau gewiss niemand mehr bezweifeln, dass die Privatisierung an DOW die Rettung für den Standort war. In der Chemischen Industrie Sachsen-Anhalts waren 1991 noch rund 75.000 Menschen beschäftigt. Innerhalb von weniger als zehn Jahren ging deren Zahl auf etwas über 16.000 zurück. Heute arbeiten in der Chemischen Industrie unseres Landes wieder rund 25.000 Menschen, vor allem aber: Schon 2005 wurde mit einer deutlich geringeren Beschäftigtenzahl wieder der Umsatz erreicht, den die Branche in den Jahren 1989/90 einmal hatte. Hinsichtlich des Umsatzes je Beschäftigten liegen wir bereits seit der Jahrtausendwende kontinuierlich über dem deutschen Branchendurchschnitt. All dies zeugt von einem erfolgreichen Strukturwandel, auf den wir zu Recht stolz sein können, der gleichwohl ohne die deutsche Einheit nicht zustande gekommen wäre. Und so wie in der Chemischen Industrie vollzog er sich in den anderen Wirtschaftsbereichen unseres Landes. Für Tausende führte dieser Strukturwandel zunächst zum Verlust ihres Arbeitsplatzes. Dank schulden wir auch jenen Mitarbeitervertretungen, die diesen Prozess aus Einsicht in die Notwendigkeiten verantwortungsvoll begleitet haben. Einige haben sich damals sogar überlegt, wie man die erhofften Erlöse aus der Privatisierung der Volkswirtschaft unter der Bevölkerung verteilen könnte. Um den riesigen Bedarf an technologischer Modernisierung und ökologischer Sanierung überhaupt bezahlen zu können, musste die Treuhand für jede D-Mark die sie eingenommen hatte zwei D-Mark aus dem Staatshaushalt dazu geben. Finanziert wurde das aus einem Fonds Deutsche Einheit, der bis heut noch nicht abgezahlt ist. Der Neuaufbau der Wirtschaft war nur mit erheblicher finanzieller Hilfe möglich. Lassen Sie mich ein paar Zahlen nennen, die die Dimension der Aufbauleistung allein für Sachsen-Anhalt deutlich machen. Seit 1991 bis einschließlich 2010 sind aus verschiedenen Quellen rund 85,6 Mrd. ¿ nach Sachsen-Anhalt geflossen, darunter 9,5 Mrd. ¿ aus dem Länderfinanzausgleich und rund 7,8 Mrd. ¿ aus den EU-Fonds. Mehr als 55 Mrd. ¿ stammen aus Bundesergänzungszuweisungen und weiteren Bundesmitteln, 12,6 Mrd. aus dem Fonds Deutsche Einheit. Die Gelder sind z. B. in den Ausbau der Infrastruktur geflossen, so rund 9,2 Mrd. ¿ in den Straßenbau. Wir alle wissen, wie es um den Zustand der Straßen in der DDR bestellt war und wie notwendig diese Investitionen waren. Rund 4,4 Mrd. ¿ sind in die bauliche Sanierung und die medizintechnische Ausstattung der Krankenhäuser gegangen. 6,2 Mrd. ¿ dienten der Förderung von Investitionsvorhaben der gewerblichen Wirtschaft und haben dort ein Investitionsvolumen von rund 32,5 Mrd. ¿ ausgelöst. So konnten mehr als 131.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Fast ein Drittel der Investitionen, nämlich rund 9,3 Mrd. ¿ stammte dabei von ausländischen Unternehmen. Nicht enthalten in der genannten Summe sind die Mittel, die an die Bürgerinnen und Bürger aus den Sozialversicherungen geflossen sind, da diese in Ost wie West nach den gleichen Grundlagen gezahlt werden. Deshalb darf daran erinnert werden, dass es neben der vereinbarten Wirtschafts- und Währungsunion die dritte Komponente, nämlich die Sozialunion war, die uns sehr geholfen hat, die schwierige Phase des Umbaus zu meistern, indem sie soziale Härten abgefedert und so verhindert hat, dass Menschen, die ihre Arbeit verloren, plötzlich vor dem Nichts standen. Dazu gehört auch die Anfang der neunziger Jahre in großem Umfang praktizierten Frühverrentungen. All dies hat uns in den neuen Bundesländern deutlich von unseren osteuropäischen Nachbarn unterschieden, wo der Transformationsprozess sehr viel stärker soziale Härten mit sich gebracht hat. Auch daran muss in diesem Zusammenhang erinnert werden. Mit der noch nicht erfolgten völligen Anpassung der Rentenberechnungsformel sollten wir uns bewusst noch Zeit lassen. Eine zu schnelle Anpassung würde zu deutlichen Nachteilen für die Betroffenen in den neuen Bundesländern führen. Insgesamt sind aus Transferzahlungen in den letzten 20 Jahren pro Jahr im Schnitt 4,3 Mrd. ¿ nach Sachsen-Anhalt geflossen. Geld, auf das wir dringend angewiesen waren und auch noch sind. Dazu reicht schon der Blick auf die Steuerdeckungsquote unseres Landeshaushaltes, die 2009 bei 53% lag. Wir wissen aber auch, dass 20 Jahre nach der deutschen Einheit diese Mittel rückläufig sind. 2014 werden wir z. B. mit nur noch knapp 3,4 Mrd. ¿ rechnen können. Wir müssen in Sachsen-Anhalt wie in den anderen neuen Bundesländern also zunehmend auf eigenen Füßen stehen. Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingen kann. Aber es wird nicht einfach werden. Bereits in den Jahren von 2007 bis 2009 sind wir in unserem Landeshaushalt ohne neue Schulden ausgekommen. Dann mussten wir wegen der weltweiten Wirtschaftskrise wieder Kredite aufnehmen. An unserem Ziel der Haushaltskonsolidierung freilich ändert dies nichts. Zum Schuldenabbau gibt es auch angesichts der demographischen Entwicklung keine Alternative. Unsere Wirtschaft ist nicht mehr vergleichbar mit der der neunziger Jahre. Sie ist sehr viel robuster geworden. Wir sind bislang auch vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Die Arbeitslosenzahlen sind weiter gesunken und so niedrig wie seit Beginn der neunziger Jahre nicht mehr. Auch andere Wirtschaftsdaten stimmen optimistisch. So ist das Bruttoinlandsprodukt preisbereinigt von 1991 bis 2009 in Sachsen-Anhalt um 65,6% gestiegen, in Deutschland insgesamt waren es 22,7%. Inzwischen erreichen wir fast 74% des gesamtdeutschen Wertes, 1991 war es erst die Hälfte. Während 1991 noch 77,2 Arbeitsstunden erforderlich waren, um 1000 ¿ des BIP zu erwirtschaften, waren es 2008 nur noch 28,6 Stunden. Diese Produktivitätsverbesserung hatte auch zur Folge, dass die Arbeitslosigkeit langsamer zurück ging als von uns erhofft. Erfreulich ist auch, dass es uns gelungen ist, insgesamt einen Strukturwandel zu vollziehen. Es sind nicht mehr allein die für Sachsen-Anhalt traditionell wichtigen Branchen wie die Chemieindustrie, der Maschinenbau oder die Ernährungsbranche, die das Bild unserer Wirtschaft prägen. Neue Branchen wie die Automobilzulieferer, die Solarindustrie und der Windenergieanlagenbau wie insgesamt der Bereich der regenerativen Energien sind hinzu gekommen. Damit ist unsere Wirtschaft nicht nur vielgestaltiger, sondern auch weniger krisenanfällig geworden. Ausdruck der gewachsenen Leistungskraft unserer heimischen Wirtschaft ist die gestiegene Exportquote. Lag diese vor zehn Jahren noch bei lediglich 15,7%, so ist sie inzwischen auf rund 27% im Jahr 2009 gestiegen. Wir wissen natürlich, dass auch hier noch Steigerungspotential vorhanden ist, vom deutschen Durchschnitt von 44% sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Eine Ursache liegt ohne Zweifel in der recht kleinteiligen Wirtschaftsstruktur in Sachsen-Anhalt begründet. 90% aller Unternehmen haben weniger als 20 Arbeitsplätze. Das bei uns entwickelte Modell der Chemieparks, das auch international Beachtung gefunden hat, oder Firmennetzwerke wie das der Automobilzulieferer MAHREG sind unser Weg in die Zukunft. Sie zeigen, wie man durch Bündelung der Kräfte positive Effekte für die Entwicklung der Wirtschaft in einer Region organisieren kann. Der noch zu den westlichen Flächenländern bestehende Unterschied beim BIP pro Einwohner resultiert aus der noch zu geringen Dichte an Industriearbeitsplätzen. Bezogen auf die einzelnen Arbeitsplätze ist die Produktivität nur noch unwesentlich geringer. Umfangreiches Datenmaterial wurde von den Statistischen Ämtern der Länder und des Bundes dazu zusammengetragen und auch mit dem Jahresbericht 2010 der Bundesregierung zur Deutschen Einheit vorgelegt. Es gibt auch bemerkenswerte Erfolgsgeschichten. Eine nach 1990 gegründete kleine Firma ist inzwischen auf über 2000 Beschäftigte gewachsen und hat ihren Hauptsitz kürzlich in ein Gebäude verlegt, dass in besonderer Weise mit der Magdeburger Industriegeschichte verbunden ist, in das im 19. Jahrhundert errichtete Hauptgebäude von Krupp-Gruson, dann lange als SKET Verwaltungsgebäude genutzt und heute wieder voller Leben. Selbstverständlich waren die letzten 20 Jahre nicht nur vom wirtschaftlichen Umbau in unserem Land geprägt, wenn auch die Wirtschaft der Bereich ist, in dem die Grundlagen für den gesellschaftlichen Wohlstand gelegt werden. Nur das was produziert wird, kann auch verbraucht oder verkauft werden, eine einfache Grundregel, die konsequent befolgt werden sollte, auch das lehrte uns die DDR-Geschichte. Neben veränderten Wirtschaftsstrukturen hat die deutsche Einheit uns auch die Strukturen eines Rechtsstaates und damit Rechtssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger gebracht. Die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative, ohne die keine Demokratie funktionieren kann, wurde wiederhergestellt. Der Landtag hat in seiner ersten Legislaturperiode immerhin über 279 Gesetzentwürfe zu beraten gehabt. In der letzten Legislaturperiode von 2002 bis 2006 waren es noch 155. Wir geben zu, dass wir die Regeln des Parlamentarismus erst wieder lernen mussten. Gleichwohl waren dies vermutlich noch die einfachsten Anpassungsprozesse; nämlich der staatsrechtliche, der verfassungsrechtliche, der kommunalrechtliche, der verwaltungsrechtliche Anpassungsprozess an den gesamten Gesetzeskodex der westlichen Bundesländer. Vieles musste nur abgeschrieben werden, weil es zum Rechtsrahmen gehörte und sich bereits bewährt hatte. Mir haben - bestimmt zu Recht - nicht wenige Verwaltungsbeamte aus Westdeutschland gesagt: Wenn wir unsere Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem gleichen Gesetzeskodex und mit den gleichen schwierigen Durchführungsbestimmungen, beispielsweise dem § 44 der LHO, hätten aufbauen müssen, hätten wir das nicht geschafft. Wir haben Gesetze übernommen, die in Westdeutschland erst in der ersten Hälfte der 70er-Jahre geschaffen wurden, also nachdem der wirtschaftliche Aufbau dort im Wesentlichen abgeschlossen war. Es ist darüber diskutiert worden, ob man nicht für eine Übergangsphase nur einen Teil des westdeutschen Rechtsapparates übernimmt. Es waren die Vertreter der Volkskammer, die gesagt haben, wir wollen unter den Schutz des Grundgesetzes. Wir wollen keine andere Rechtslage, wir wollen kein Sondergebiet, wir wollen Teil der Bundesrepublik werden. Damit haben wir ein Verwaltungsrecht übernommen, das sehr ausdifferenziert und deshalb auch sehr personalaufwendig ist. Trotzdem müssen wir es mit den gleichen Personalzahlen schaffen, mit denen es auch die westlichen Flächenländer hinbekommen. Die dazu notwendigen strukturellen Reformen in allen Verwaltungsbereichen unseres Landes haben wir durchorganisiert. In der Bilanz der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land 20 Jahre nach der Wiedervereinigung sieht manches anders aus. An Umfragen, die uns die Befindlichkeit unserer Bürger 20 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung nahebringen wollen, fehlt es derzeit nicht. Eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg hat ergeben, dass sich nur 9% der Befragten in den neuen Bundesländern die DDR zurück wünschen. Aber mehr als die Hälfte will weder die DDR wieder haben, noch fühlt sie sich im geeinten Deutschland schon richtig wohl. 52% der Westdeutschen sind wiederum der Meinung, dass es dem Osten inzwischen besser oder zumindest teilweise besser geht als dem Westen. Auch dafür gibt es schon Beispiele, wenn man die Leistungsstatistiken bis auf Kreisebene herunter bricht. Die immer häufiger polemisch geäußerte Frage, wenn denn die sogenannte innere Einheit erreicht sei, wird sich mit einzelnen statistischen Ergebnissen nicht beantworten lassen. Zu den emotionalen Problemen , die wir noch nicht überwunden haben, gehört auch, dass wir uns in Ost- und Westdeutschland gegenwärtig noch mit Vorurteilen begegnen. Niemand aus der ehemaligen DDR muss sich einreden lassen, dass der Misserfolg des Wirtschaftssystems ein persönliches Versagen gewesen sei und das seine persönliche Lebensleistung deshalb weniger Wert sei. Niemand aus den westlichen Bundesländern kann mit Recht so auftreten, als ob der Erfolg der sozialen Marktwirtschaft sein ganz persönlicher Lebenserfolg sei. Beides hat es gegeben; weder das eine noch das andere sollte uns noch beeindrucken. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben aber beide viele gute Gründe, gemeinsam über die bisher erreichte Aufbauleistung in den östlichen Bundesländern stolz zu sein. Der mentale Transformationsprozess ist sicher noch nicht abgeschlossen. Totalitäre Sozialisationserfahrungen in einer vormundschaftlichen Fürsorgediktatur müssen zwangsläufig zu einer anderen Verhaltensweise führen als die Sozialisation in einer weltoffenen Wettbewerbsgesellschaft. Noch heute ist die Neigung, vom Staat mehr zu erwarten als er in einer freiheitlichen Leistungsgesellschaft zu leisten vermag, in den neuen Ländern weit verbreitet. Eine andere Frage, die immer wieder thematisiert wird, ist die Ost-West-Angleichung . Auch 20 Jahre nach der Einheit gibt es noch Unterschiede, z. B. bei den durchschnittlichen Einkommen und den durchschnittlichen Renten. Die neuesten Angaben zu den verfügbaren Einkommen in Deutschland weisen für den Bördekreis pro Kopf im Jahr 2009 rund 16.700 ¿ aus. Er liegt damit an der Spitze in Sachsen-Anhalt. Das sind zwar nur 88,2 % des deutschen Durchschnitts. Aber es sind mehr als in der Stadt Flensburg, die auf 86,3 % des deutschen Durchschnitts kommt und auch mehr als die 87% aus Gelsenkirchen. Wir sollten zunehmend den Blick auf das richten, was wir erreicht haben, das bedeutet nicht, aus den Augen zu verlieren, was wir noch erreichen wollen. In allen föderalistisch strukturierten Staaten der Welt gibt es regionale Unterschiede. Die zwischen Ost und West in Deutschland sind nur noch wenig größer als die zwischen Nord und Süd. Aber wir leiden mehr darunter, weil wir hier über 60 Jahre zentralistische Staatsstrukturen hatten. Die Forderung nach gleichwertigen Lebensverhältnissen sollte auch nicht zum Verzicht auf unsere regionale Identität führen. Auch wir können mit Stolz auf einiges verweisen, was wir als Alleinstellungsmerkmale unseres Landes behalten und wofür wir werben wollen. Die Menschen bei uns wollten die Freiheit. Sie meinten damit die Reisefreiheit und sie meinten damit die Presse- und Meinungsfreiheit. Sie meinten natürlich auch die D-Mark, nach der laut gerufen wurde. Aber sie wussten nicht und konnten nach über 60 Jahren Unfreiheit auch nicht wissen, dass Freiheit auch mehr Selbstverantwortung und mehr Risikoübernahme durch jeden einzelnen bedeutet. Das Erlebnis des wirtschaftlichen Transformationsprozesses mit der hohen Arbeitslosigkeit, mit der großen Verunsicherung und auch der Enttäuschung vieler, die in diesen Prozess mit Illusionen hineingegangen sind, hat dazu geführt, dass die Freiheit heut von nicht wenigen anders gesehen wird. Es gibt heute noch eine nicht geringe Anzahl von Menschen, die vor dieser Freiheit Angst haben, weil sie sich ihr nicht gewachsen fühlen. Ihnen sind wir Chancen schuldig, sich selbst in dieser Freiheit bewähren zu können. Wer, für diese Freiheit wirbt, der muss sich auch darum kümmern, dass sich die Menschen dieser Freiheit gewachsen fühlen können. Das ist unsere Aufgabe als Politiker. Ich weiß, dass wir dafür noch einiges zu tun habe. Wir in den neuen Bundesländern haben jetzt einen großen Anteil an Bürgerinnen und Bürgern mit gebrochenen Erwerbsbiografien und noch immer viele Langzeitarbeitslose. Sie wachsen in eine Zukunft hinein mit niedrigen Rentenansprüchen. Je früher die noch unterschiedliche Rentenberechnungsformel an die gültige im Westen angeglichen würde, desto niedriger werden die Rentenansprüche. Es ist in unserem Interesse, diesen Prozess zu prolongieren. Damit wächst die Zahl der Personen mit Grundsicherungsansprüchen an ihre Kommune überproportional. Unsere Gemeinden, die durchschnittlich nur 51 % des Gewerbesteueraufkommens der westdeutschen Gemeinden haben, werden dies nicht leisten können. Diejenigen, die schon vor 20 Jahren gegen die Wiedervereinigung Deutschlands gestimmt haben, erklären das jetzt schon zu einer glatten Katastrophe. Diejenigen aber, die sich heut noch über das erlebte Wunder der Wiedervereinigung freuen, werden sich nicht entmutigen lassen. Als ein noch zu lösendes Problem aber dürfen wir es nicht unterschätzen. Es gibt auch noch andere Folgen der Teilung und der Wiedervereinigungspolitik, aus denen Handlungsbedarf resultiert. Fast alle diese Probleme werden sich umso schneller und umso besser lösen lassen, je schneller die eigene Wirtschaftskraft und dadurch das eigene Steueraufkommen wachsen werden. Deshalb müssen wir uns auf diese Aufgabe schwerpunktmäßig konzentrieren. Die wichtigsten Aufgaben bei der Umwandlung einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer privatrechtlich organisierten weltoffenen Marktwirtschaft sind erledigt. Unsere wirtschaftliche Grundlage ist noch zu klein, aber sie ist wettbewerbsfähig. Auch die Zahl anspruchsvoller und besser bezahlter Arbeitsplätze wird zunehmen. Niemand will einen Niedriglohnsektor um seiner selbst Willen, aber es ist immer noch besser, eine weniger gut bezahlte Arbeit zu haben als gar keine. Inzwischen werden Fachkräfte gesucht. Das ist nicht nur eine Chance für junge Menschen, die nach guter Ausbildung erstmals ins Arbeitsleben eintreten, sondern auch für Ältere, die einen besser bezahlten Arbeitsplatz ausfüllen können. Die Umwandlung der Staats- und Rechtsstrukturen einer zentralistischen Diktatur in eine föderale und freie parlamentarische Demokratie ist abgeschlossen. Die notwendigen Strukturreformen zur Anpassung an die demografische Entwicklung ist auf allen Verwaltungsebenen und in allen Verwaltungsbereichen erfolgt. Trotzdem bleibt noch wichtiges zu tun. Die Anpassung der Haushaltsausgaben an die eigenen Einnahmen wird noch einige Jahre dauern. Ich hoffe sehr, dass die Konsolidierungshilfen dabei nicht verspielt werden. Die Anpassung der Personalbestände an die demografische Entwicklung ist eine schwierige, aber notwendige Maßnahme. Sie ist noch nicht erledigt. Der Abbau der jährlichen Zinslasten durch Rückzahlung der Kreditschulden wird noch lange dauern. Das wird nur möglich, wenn Mehrausgaben nicht gleich verausgabt werden und wenn die eigene Wirtschaftskraft weiter wächst. Es wird die Zeit kommen, in der neue Abgeordnete sich über die hohen Schulden aus den Anfangsjahrzehnten unseres Landes laut wundern werden. Ihnen muss man dann von den Problemen der Übergangs- und Aufbaujahre berichten. Es wird die Zeit kommen, da werden nachgeborene Generationen danach fragen, wie das war, als Deutschland geteilt war und warum und worin denn der Unterschied bestand im Leben in den beiden Teilen Deutschlands. Dann sollte ihnen nicht nur von den unterschiedlichen Wirtschafts-, Rechts- und Machtstrukturen berichtet werden, nicht nur vom unterschiedlichen Gebrauch staatlicher Gewalt und vormundschaftlicher Betreuung, sondern auch von den unterschiedlichen gesellschaftlichen Zielen und Hoffnungen. Auch die Verantwortlichen in der ehemaligen DDR waren nicht daran interessiert, sich bei ihren Bürgern unbeliebt zu machen. Sie waren überzeugt von ihrer Ideologie, mit dem Ziel einer neuen sozialen Gerechtigkeit, die mit selbst erfundenen angeblich objektiven Gesetzen der menschlichen Zivilisationsgeschichte begründet wurde. Damit wurden alle Zwangs- und Strafmaßnahmen und die Begrenzung individueller Freiheiten begründet. Parallelen dazu gibt es in der Geschichte einiger Religionen vor der Zeit der Aufklärung. Wenn wir unsere DDR-Erfahrungen auswerten, muss dies zu einer Aufklärung über die Begleiterscheinungen sozialutopischer Ideologien und Hoffnungen führen. Diese Aufgabe haben wir nur unvollständig geleistet. In jeder Gesellschaftsordnung, die Leistung braucht und auf Leistung der Bürger setzt, wird es auch immer wieder Unterschiede und Spannungen geben. Die Illusion von einem konfliktfreien Zusammenleben gibt es zwar schon immer und wird es auch weiter geben. Je mehr Menschen dabei reglementiert werden, umso stärker wird der Drang nach Freiheit. Wir haben beides erlebt. Die Menschen in Ostdeutschland und in Osteuropa haben dies mit ihrem Freiheitswillen bezeugt. Auch zukünftige Generationen werden nach neuen Wegen suchen, für sich Gerechtigkeit zu organisieren. Es gibt kein Ende der Geschichte. Genauso wichtig wie der individuelle Wunsch nach Wohlstand dabei ist der individuelle Wunsch nach Selbstbestimmung in Freiheit. Das erst bedeutet die Achtung der Würde jedes Einzelnen. Unsere Erfahrungen können dafür Ermutigung sein, unsere Erinnerungen sollen dabei helfen. Impressum: Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt Pressestelle Hegelstraße 42 39104 Magdeburg Tel: (0391) 567-6666 Fax: (0391) 567-6667 Mail: staatskanzlei@stk.sachsen-anhalt.de
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